Kommentar Minderheitsregierung: Kein Grund für eine Neuwahl

Ohne das starre Korsett einer Koalition würde deutlicher, wo die Parteien thematische Schnittmengen haben. Es wäre auch gelebte Demokratie.

Blick in den voll besetzten Plenaarssal des Bundestages

Ohne Regierungsmehrheit könnten die Abgeordneten abstimmen, wie sie wollen Foto: dpa

Das angeblich Undenkbare wird denkbar in Deutschland. Wer hätte schließlich gedacht, dass das Jamaika-Bündnis nach wochenlangen Verhandlungen doch scheitert? Genau, fast niemand. Jetzt wird eine Minderheitsregierung der Union ausgeschlossen. Aber wer weiß, vielleicht ist das, was jetzt vielen als Wagnis erscheint, schon in wenigen Tagen oder Wochen das neue Gebot der Stunde.

Für Deutschland wäre es gut, wenn es zu einer Minderheitsregierung käme. Die ist nämlich gar nicht so außergewöhnlich, wie gern behauptet wird. Politologen weisen zu Recht darauf hin, dass Deutschland faktisch fast immer eine Minderheitsregierung hat, denn alle wichtigen Gesetze müssen nicht nur den Bundestag passieren, sondern auch den Bundesrat. Doch in der Länderkammer haben meist genau jene Parteien das Sagen, die im Bundestag in der Opposition sind. Also mussten die deutschen Bundeskanzler schon immer mit allen Parteien taktieren und feilschen, um ihre Gesetze durch Bundesrat und Bundestag zu bringen.

Aber auch im Bundestag ist es schon häufiger vorgekommen, dass sich Kanzlerin Angela Merkel ihre Mehrheiten gelegentlich jenseits der eigenen Koalition gesucht hat. Besonders auffällig war dies bei der Eurokrise: Viele Unionsabgeordnete, besonders der CSU, konnten sich mit den vorgeschlagenen Rettungspaketen für die Krisenländer nicht anfreunden – dafür stimmten die Grünen ihren Plänen zu.

Eine Minderheitsregierung hätte nicht nur den Charme, dass vorerst Neuwahlen vermieden würden. Es wäre auch gelebte Demokratie. Ohne das starre Korsett einer Koalition würde deutlicher, wo die Parteien thematische Schnittmengen haben – und wo nicht. So würde endlich sichtbar, dass die Union aus CDU und CSU besteht. Anders gesagt: Die CSU könnte ihre Lieblingsprojekte begraben. Die Abschaffung des Soli würde es wohl genauso wenig geben wie eine erweiterte Mütterrente.

Ein politischer Idealzustand ist die Minderheitenregierung nicht, denn wichtige Zukunftsprojekte könnten liegen bleiben, weil spontan dort gewurstelt wird, wo gerade Mehrheiten in Sicht sind. Aber sie ist eine attraktive Alternative. Und kein Grund für eine Neuwahl.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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