ZAHLENRÄTSEL IN DER STAATSBIBLIOTHEK
: Pinhead

ROGER REPPLINGER

Jeden Abend kurz vor 21 Uhr stehen sie vor den Spinden der Staatsbibliothek (Stabi) – rote Augen, durchwühlte Haare, bleich – und haben alles vergessen. Die Reihe, in der ihr Spind ist, den Namen ihres Spinds, die Pinnummer.

Um es für die, die nicht in der Stabi arbeiten, zu erklären: Die Spinde unten, in der Eingangshalle, sind nach Sachgebieten geordnet. Ganz rechts Länder, die Reihen daneben Städte, Schriftsteller und Pflanzen gibt’s auch. Für jede Fakultät was dabei. Innerhalb der Sachgebiete geht es alphabetisch zu. Ich nehm gerne Länder: Suche einen offenen Spind, suche ein Land, zu dem ich eine Eselsbrücke bauen kann: Brasilien, WM 1958, mein Geburtsjahr. Packe Rucksack und Jacke rein, nehme Handy, Geldbeutel und Ausweise aus der Jacke. Spind zu. Gebe den Pin ein, vier Zahlen, nimmste nicht 2012 und nicht 1958, nimmste 1970 (Pelé, Carlos Alberto, Gérson, Rivelino, Jairzinho und Tostão, Trainer war: hm, der Dings?). Drückst auf’s Schließen-Symbol. Drehst den Schlüssel, gehst arbeiten.

Gegen 20.45 Uhr sagt die Stimme der Stabi, dass „es nun 20.45 Uhr ist“, und bald geschlossen wird. Zieht man das Stromkabel aus der Steckdose, fährt den Laptop runter, packt die Bücher weg. So ist man rechtzeitig am Spind, dass die Leute, die in der Stabi arbeiten, keine Überstunden machen müssen.

Diesmal sucht ein junger Mann nach seinem Spind. Gibt seine Pinzahl ein, drückt das Öffnen-Symbol, rotes Licht. Falscher Spind. Der nächste. Rotes Licht. Ich frag: „Viel gearbeitet?“ Er nickt.

Kann man schon mal vergessen, welche Reihe man hatte. Stadt, Land, Fluss. Ne, Flüsse, haben sie nicht. Hab mal die Pin-Nummer der EC-Karte vergessen. Brauchte eine neue. Der Kopf weiß ja nicht nur was, er ist auch ein Loch, in dem viel verschwindet. Mit zunehmendem Alter mehr. Manche stellen eine Tasse auf den Spind, einen Kuli, ein Blatt. Hab ich nicht kapiert, und die Tassen ins Café gebracht. In der Stabi nie was von den Spinden nehmen! Kann fatale Folgen haben. Bei den Städten nehm ich nur solche, deren Klub mal die Champions League gewonnen hat, oder die mal Olympische Spiele hatten. Tiere: schwer. Hast du ein Tier, dessen Namen du nicht aussprechen kannst, ist es abends weg, und du stehst da. Man könnte es sich ja auch aufschreiben, macht kaum keiner. Pflanzen lass ich die Finger von. Nicht mein Ding.

Wenn du es verbaselt hast, dann hast du garantiert dein Handy im Spind, natürlich aus, sonst könntest du es anrufen, deine Kohle, den Schlüssel fürs Rad, und die Jacke. Dann regnet es sicher. Es gibt Leute, die wissen ihren Spind noch, nur der Pin ist weg. Dann kommt einer von der Stabi, fragt: „SinSiesicher?“, und weiß einen Weg. Wenn du die Reihe nicht mehr weiß, ist Essig.

Ich glaub, dass bei jedem, der seine Pinnummer eingibt, für einen Moment im Kopf eine Angst ist: Hoffentlich stimmt’s, in dem Moment guckst du in das Loch, in dem die Nummern, Zahlen und Namen verschwinden. Nur das nicht, was man gerne vergessen möchte.