Vom Auffalten im Raum

Hungrig nach Licht, Luft und allem, was die Zeit so bringt: In der Ausstellung „Denn was innen ist, ist außen“ sind die Skulpturen des 90-jährigen Bildhauers Emil Cimiotti im Georg Kolbe Museum wieder zu entdecken

Emil Cimiotti „Der Berg und seine Wolken“, 1959 Foto: Archiv Emil Cimiotti

Von Katrin Bettina Müller

Wie das da herausfingert! Die Fläche durchstößt und sich neugierig dem Licht entgegenstreckt. Wie es sich aufbäumt, aufflattert und lebensfreudig jauchzt und raschelt!

Ja, aber was denn, wer denn, wovon ist denn die Rede? Von einer Skulptur von Emil Cimiot­ti, in Bronze gegossen, 1959. Eigentlich abstrakt, eigentlich bilden ihre Formen nichts konkret Benennbares aus der gegenständlichen Welt ab und hören kann man sie schon gar nicht. Aber dennoch ist der Eindruck der Lebendigkeit höchst präsent, man denkt bei „Monte Cicero“ vielleicht an junge Vögel, die Schale durchstoßend und über den Nestrand schauend. Und sieht doch, dass die Bewegung allgemeiner und offener ist, tierische und florale Anmutungen streift, vor allem aber etwas von der Lust an der Veränderung ausstrahlt.

Reliefs aus Papier

Emil Cimiotti, dem jetzt das Georg Kolbe Museum eine Ausstellung widmet, ist heute 90 Jahre alt. Inzwischen arbeitet er mit Papier, das er färbt, faltet und zu Relief formt; aber bis vor drei Jahren noch hat er seine Bronzeskulpturen in einer von ihm entwickelten Technik in Wachs entworfen. Damit war er Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre bekannt geworden, ein junger Bildhauer unter den älteren Malern, die für einen Neuanfang in der Kunst in Deutschland nach 1945 standen. Die Ausstellung zeigt sowohl sehr frühe Skulpturen von ihm als auch spät entstandene Arbeiten und spannt damit einen weiten Bogen durch sein Werk.

Emil Cimiotti, in Göttingen geboren, studierte in Stuttgart, wo unter anderem Willi Baumeister lehrte, ein großer Ermutiger auf dem Weg zu unbekannten Formen. Schon als Student begann Cimiotti mit Wachs zu experimentieren, was er zusetzen musste, um es zu Flächen auszuziehen und diese zu biegen und zu falten. Seine Skulpturen sind von Öffnungen durchbrochen, sie umhüllen Zwischenräume, lassen die Luft und das Licht durch das Material ziehen.

Obwohl die Formen am Ende in Bronze gegossen werden – das Wachsmodell geht dabei verloren –, wirken sie nie schwer oder monumental oder repräsentativ: Damit halten sie einerseits deutlichen Abstand zur ideologisch in den Dienst genommenen menschlichen Figur, wie sie von den Nationalsozialisten in der Kunst favorisiert wurde. Öffnen sich andererseits aber einem vielfältigen Feld von Assoziationen und poetischen Anspielungen.

„Der Berg und seine Wolken“ von 1959 ist so ein Gebilde, dass, obwohl nur 46 cm hoch, doch eine ganze Welt umfasst. Die Wolken, die auf kleinen Stegen über dem Berg stehen, haben viel Luft zwischen ihren dünnen, durchbrochenen Blättern aus Bronze. „Der Wald“ aus dem gleichen Jahr wirkt wie ein erdiges Stück, eine Ansammlung klumpiger Formen mit kleinen Löchern. Man kann sich, das ist Betrachterfantasie, Ameisen vorstellen, die ein und ausschlüpfen, Moos und Tau in den Vertiefungen ahnen und ein weitverzweigtes nicht sichtbares Innenleben unter der Hülle.

Anderes erinnert an Schädel und Knochen, an von langen Abnutzungsprozessen verschliffenes Material, wie die Knollen, aus denen er „Scylla und Charybdis“ bildete, eine Skulptur, mit der Cimiotti 1960 im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig unter die prominenten Künstler gerückt war.

So sieht man im Georg Kolbe Museum, in den frisch renovierten Räumen des Bildhauer­ateliers, gleich eine große Formenvielfalt zu Beginn, die in späteren Arbeiten viele Entsprechungen findet. 2013 entstand „Erlkönig“, sich ausbreitend wie eine Baumkrone, die sich in fliegende, flatternde, unheimlich greifende Arme verwandelt. Auch ist die Oberfläche der Bronze nicht glatt, nicht geschlossen, sondern rau und schrundig, borkenähnlich, als hätte Verwitterung schon eingesetzt.

Steingrau und moosgrün

Die Farben der Patinierung und der Verwitterung, die Bronze bei Aufstellung der Skulpturen draußen mitmacht, bezieht Cimiotti mit ein. Steingrau und moosgrün ist jetzt, nach fast 20 Jahren im Freien, das „Rasenstück für Großburgwedel“, das aus dem Park, wo es sehr von Kindern geliebt wird, in die Ausstellungshalle gefunden hat. Vier leicht ovale Formen sind miteinander verschränkt und klappen jede für sich auf wie eine Muschel, die hungrig ist nach Licht, Regen, und allem, was die Zeit so bringt. Es ist eine einfache und doch einladende Form. Dass Emil Cimiotti jetzt im Kolbe Museum zu sehen ist, geht auf eine Anregung der Kuratorin Christa Lichtenstern zurück, die auch seine Zeichnungen und Papierreliefs ins Spiel bringt. Auch die erzählen wieder vom Aufbrechen der Oberflächen, vom Auffalten von Raum, von Ausdehnung und Krümmung. Anders als die Ausstellung zeigt der Katalog auch Fotografien von seinen größeren Arbeiten im öffentlichen Raum, ein Brunnen vor dem Staatstheater in Braunschweig, eine „Vegetative Säule“ vor der Bundesbank in Hannover. Die Fähigkeit seiner Skulpturen, mit ihrer Umgebung zu kommunizieren, wird in diesen Aufnahmen deutlich. Sie drängen sich nicht auf, aber sie bieten Entdeckungsmöglichkeiten für den, der sich auf ihre Gelassenheit einlässt.

Georg Kolbe Museum, tägl. 10–18 Uhr, bis 28. Januar 2017