Buch über Ökokritik: Natur? Bloße Fantasie von Städtern!

Sehnsucht und Angst: Der Philosoph Timothy Morton zeigt in „Ökologie ohne Natur“, warum wir der Umwelt nicht gerecht werden.

Ein Buchenwald

Nichts als ein Mythos: Städter hängen laut Timothy Morton Fantasiezuständen der Natur nach Foto: dpa

Ohne Natur? Was soll so eine Ökologie? Als „Haushalt der Natur“ hat sie Ernst Haeckel im Jahre 1866 wissenschaftlich begründet! Timothy Morton, britischer Philosoph, stellt einleitend gleich klar, dass er sich gegen Vorstellungen von „Natur“ als Wildnis richtet. Diese Natur sei nichts als Fantasie von Städtern, die in längst nicht überwundener, eher noch vertiefter Romantik Zuständen nachhängen, die es in Wirklichkeit nie gab. So weit, so gut, so nachvollziehbar.

Jeder macht sich (s)ein Bild von Natur, oft verbunden mit der Überzeugung, dass „der Mensch“ außerhalb dieser Natur steht. Weil wir uns irgendwann in grauer Vorzeit mit Sprache, Denkweise und Technik vom Naturdasein emanzipiert haben. Das Sein wurde damit, ganz im Descartes’schen Sinne, zum Da-Sein in einer Umwelt, die getrennt von der Natur zu deuten und (weiter) zu gestalten ist.

Kultur kontrastiert in dieser Spaltung zur Natur. Seiner Nicht-Natur kann sich der Mensch nicht entziehen, möge er noch so viel Natursehnsucht entwickeln und Surrogatnatur schützen. Genau hier setzt die Ökokritik an. Sie muss, um intellektuell redlich zu bleiben, den Naturbegriff grundsätzlich infrage stellen, muss ihn entlarven als schönen Schein, der unserer Neigung zur Ästhetik entspringt. Im Klartext: Natur ist (Selbst-)Täuschung. Als Begriff bedarf sie der grundlegenden Korrektur, sollten wir die Zukunft bewältigen wollen.

Mit diesem kritischen Blick auf Natur, die wir schützen wollen, kann man sich anfreunden. Natur hat unseren Zielsetzungen zu entsprechen. Der Dschungel mag als Vorstellung reizvoll sein, aber die wenigsten erstreben ein Leben darin.

Die Ökologie-Bewegung: längst Teil des Establishments

Doch es kommt rasch dicker. Mit Ökokritik, als Ecocritique im Text verwendet, „zeige ich, […] dass Natur uns nicht unbedingt der Gesellschaft entfernt, sondern [sie] eigentlich das Fundament nationalistischer Begeisterung bildet.“ […] „In der Aufklärung wurde Natur dazu herangezogen, se­xuelle und rassistische Identitäten zu definieren […] Das Normale wurde entlang der Koordinate natürlich/unnatürlich vom ­Pathologischen ­abgegrenzt.“

Über Jahrhunderte war die Natur Feind des Menschen und keineswegs Vorbild oder gar „Mutter“ im Sinne der neoreligiösen Gaia-Vorstellung. Die Aufklärung entzauberte und verzauberte diese Spaltung von Mensch und Natur. Die kapitalistische (Mehr-)Werttheorie, rigoros praktiziert in der westlichen Wirtschaft, bemächtigte sich der Darwin’schen Evolution mit dem survival of the fittest, das eine perfekte rational-natürliche Begründung für ihr Vorgehen lieferte. Mit dem „Zurück zur Natur“ hielt und hält die romantische Naturverklärung dagegen.

Mortons Kritik ist bei dem verbreiteten Ökologismus unserer Zeit so berechtigt wie nötig

Die (grüne) Ökologiebewegung, so Morton, pflegt diese Spaltung weiterhin, verstärkt sie sogar, weil gleich die ganze Welt gerettet werden soll. Aber längst gehört sie zum Establishment und fördert die kapitalistische Ausbeutung mit der nicht nachvollziehbaren, weil tief religiösen Begründung, allein das Wissen vom rechten Weg zu haben. Sie droht mit der Apokalypse, schürt Ängste um die Zukunft und bedient sich des christlich-mittelalterlichen Ablasssystems zur Rettung der Welt.

„Die Natur“ als Vorstellung hat also ziemlich viel auf dem Kerbholz. Da sie nicht existiert, kann sie sich nicht wehren. Wie sie interpretiert wird, bleibt den Interpreten überlassen. Diese gebärden sich allwissend und scharen Gläubige um sich. Timo­thy Morton zieht Zwischenbilanz: „… dass Natur ein ­wirksamer Slogan bleibt, ist weniger ein Symptom dafür, wie weit wir gekommen, als dafür, dass wir nicht sehr weit gekommen sind.“ Gegen Ende der ausführlichen Einleitung mahnt er uns zu „angemessen langsamem Lesen“. Das fällt nicht schwer, weil sein Buch wirklich nicht leicht zu lesen ist.

Eine „Poetik des Ambientes“

Kapitel 1 gilt der „Kunst der Umweltsprache“. Das Schreiben über Natur wird als „Ökomimese“ definiert und kritisiert. In ihrer „starken Form“ schafft sie eine „Poetik des Ambientes“; Begrifflichkeiten, die klarstellen sollen, was gemeint ist. Ob notwendig oder nur verkomplizierend, sei dahingestellt, zumal aus Sicht des Ökologen, der aus guten Gründen allzu scharfe Abgrenzungen sehr kritisch betrachtet, passt so ein geistiges Schubladensystem schon kaum in den Kopf, gewiss aber nicht zur Natur.

In seiner Auseinandersetzung mit dem Schrei­ben über Natur widerlegt sich Timothy Morton sodann gewissermaßen selbst mit Feststellungen wie: „Gestehen wir also lieber ein, dass alles, was wir von Natur spüren, ein Echo unserer ‚Projektionen‘ ist. Natur können wir nur rückwirkend als Natur definieren.“ Ja, was nun? In Kapitel 2 steigert sich die Verwirrung mit dem wiederum recht apodiktisch klingenden „Und wäre das Ambiente kein allgemeines Merkmal rhetorischer und künstlerischer Projektion, stünde diese Studie auf tönernen Füßen“.

Wenige Zeiten weiter: „Schreiben über die Umwelt hat es auf das Ambiente abgesehen, und das Ambiente ist seine äußerste Nemesis. Diese Verdrehungen erscheinen hier wieder in der bewussteren Form des ‚Fremden‘.“

Der Text hat mitunter Längen, liest sich aber herausfordernd interessant: „Schlussendlich wird man in der Romantik wohl den Beginn des ‚umwelthaften‘ Denkens und Handelns erkennen. Mit der romantischen Geschichte trat der Zeitgeist in Erscheinung. Denn das Angstgefühl stieg mit der siegenden Technik. […] Ein Name für diese Angst ist Postmoderne, ein anderer Ökologie.“ – „In ihren Anfängen entwickelte die Ökologie Begriffe, in denen die Vorstellung des Heimischen anklang: ‚Nische‘ zum Beispiel, ein Wort, das ursprünglich für einen Platz stand, der Statuen beherbergte.

Natur als Inbegriff von Kitsch

Auch Wissenschaft kann tolkienesk sein. Doch wo bleiben dabei die Zugvögel, die Hominiden, Pilger, Zigeuner und Juden?“ – „Der Holismus ist eine bedeutende ökologische Ideologie, begründet aber auch das ‚Gefühl‘ des Nationalismus. ‚Wir‘ fühlen uns mit einem Ganzen verbunden, das größer ist als die Summe seiner Teile. Die Auseinandersetzung zwischen Individualismus und Holismus bietet in abgemilderter Form eine Wahl zwischen Freiheit und absoluter Autorität, in anderen Worten: Das Dilemma namens Amerika.“ Seine philosophische Analyse kommt zwar bis zum „System“, vertieft sich aber nicht in den in der Ökologie so zentralen Begriff des Ökosystems.

Nachdem nun geklärt – oder zerstört – ist, was gemeinhin mit oder über Natur gedacht wird, folgt im 3. Kapitel die Aufforderung „Ökologie ohne Natur denken“. Kernstück sei die sogenannte Dunkle Ökologie, die nicht einfach eine vertiefte Ökologie sein soll, sondern radikal anders gedacht werden muss. Aber wie? „Dunkle Ökologie erkennt an, dass es keinen Ausweg aus den beschriebenen Paradoxien gibt. Die Ökokritik muss sich eingestehen, dass sie keineswegs natürlich, sondern kontingent und seltsam ist.“

Zu dieser Einschätzung kommt Timothy Morton, weil „Natur bereits Inbegriff des Kitsches“ ist. Empfand ich es bis zur Auseinandersetzung darüber, was Kunst und was Kitsch ist, schon mühsam genug, seinen Gedankengängen zu folgen, scheiterte ich vollends bei Formulierungen wie: „Gemeinhin geht ökologisches Denken davon aus, dass die anorganische Welt lebendig ist. Das schließt auch ein, dass wir Tiere und Pflanzen als Selbstzweck begreifen und nicht als Mittel. Paradoxerweise wird aber gerade so die Natur denaturiert.“

Oder: „Wir sollten lieber die Menschen mit nichtmenschlichen Augen sehen als, in einer weichgezeichneten Version der gängigen sadistischen Distanz, Mitleid für die Tierwelt aufzubringen.“ All das verstehe ich nicht. Und auch nicht den Schluss: „Ökologie kann es ohne Natur geben. Aber es gibt sie nicht ohne uns.“

Problematisch: zu große Distanz zu Mensch und Tier

Die wissenschaftliche Ökologie hat der Philosoph Timothy Morton reichlich missverstanden beziehungsweise eigentlich gar nicht behandelt. Seine Distanz zu Tieren, Pflanzen und auch zu den Menschen, die sich in ihrer Vielfalt keineswegs in die idealgeistige Schablone „Mensch“ stecken lassen, sie ist schlicht zu groß. Die Brücke fehlt. Seinen Gedanken fehlt die begleitende Kontrolle, die der Kontakt mit dem Leben außerhalb des Kopfes vermittelt.

Anorganische Natur wird von den Ökologen keineswegs für „lebendig“ gehalten, und Natur sind zuvörderst auch die Lebewesen, alle, ausnahmslos. Dennoch ist es reizvoll, seiner Kritik zu folgen. Beim so verbreiteten Ökologismus unserer Zeit ist sie ebenso berechtigt wie nötig. Die Zitate sollen das keineswegs relativieren. Isoliert lesen sie sich zwangsläufig anders als im Kontext.

Timothy Morton: „Ökologie ohne Natur. Eine neue Sicht der Umwelt“. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 352 S., 30 Euro

Doch nur interpretieren, ohne zu zitieren, entfernt eher noch weiter von den Intentionen, zumal bei philosophischen Texten. Konkrete Schlüsse lassen sich aus dem Buch kaum ziehen. Die „Dunkle Ökologie“ ohne Natur wird dunkel bleiben. Sie ist keine Alternative zur Freude an der Natur. Mag der Philosoph diese Freude auch für banal und abwegig halten. Sie gehört zum Menschsein.

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