Schöner leiden

LIEBE Martin Walsers theologisch grundierter Briefroman „Das dreizehnte Kapitel“

„Das dreizehnte Kapitel“ ist nicht auf Empathie, sondern auf die Diskurse hinter den Briefen angelegt

Allein schon der Buchumschlag: Feinste 50er-Jahre-Ästhetik, als sei die Welt seitdem stehen geblieben (so schlimm wäre das ja auch nicht). Und drinnen? Man hat Umgangsformen, man schreibt sich Briefe. Das ist der Witz. Wer tut das schon noch? Erst als die Entfernungen größer, zunehmend unüberwindbar werden, greift man zu den modernen Kommunikationsmitteln: „Von meinem iPhone gesendet.“ Trotzdem spricht man sich weiterhin vollendet an: „Verehrte“, „Lieber Anempfinder“, „Liebe Fortfliegerin und gnädige Frau“.

Wenn Martin Walser sich im hohen Alter um etwas nicht mehr schert, dann ist es Plausibilität. Eine fünfzehnseitige E-Mail, „von meinem iPhone gesendet“ – warum nicht? Die liebe Fortfliegerin dürfte dafür einen ganzen Tag geopfert haben müssen, rein technisch ist das gar nicht anders denkbar.

Doch um das, was denkbar ist und möglich, vor allem aber darum, was unmöglich, aber trotzdem erdenkenswert ist, darum geht es in Martin Walsers neuem Roman, der nicht nur die vollendeten Höflichkeitsformeln der feinen Gesellschaft verarbeitet, sondern auch die Form des Briefromans des 18. Jahrhunderts wieder aufnimmt, um beides in der klassischen Walser-Suada zu vereinigen. Dazu gehören bereits die Namen: Basil Schlupp, Schriftsteller, Verfasser des Bestsellerromans „Strandhafer“. Und Dr. Maja Schneilin, Theologin.

Beide verheiratet, nicht miteinander. Auf dem Empfang des Bundespräsidenten anlässlich des 60. Geburtstages von Majas Ehemann Dr. Korbinian Schneilin, Professor für Molekularbiologie, lernen sie sich auf Schloss Bellevue nicht kennen. Aber er, Basil, sieht sie, Maja, und ist, das Wort passt, entflammt.

Er beginnt ihr zu schreiben, zögerlich zunächst, aber bereits in vollem Bewusstsein seines Potenzials, seines Vokabulars, seines rhetorischen Gemächts sozusagen. Ein anderes braucht er nicht für diese Liebe, denn sie findet ausschließlich auf dem Papier statt. Und sie wird, Brief für Brief, Geständnis für Geständnis, beidseitig intensiver. Es wird geworben und gescherzt, charmiert und gestanden, gebalzt und süßholzgeraspelt, gesehnt und gefleht. Es geht, buchstäblich, um Gott und die Welt.

Die damit verbundenen Klischees kennen beide und arbeiten sie gleich mit ab. Schließlich hat man es mit einer Theologin zu tun, einer Spezialistin für den Protestanten Karl Barth, mit dessen Schriften sich Walser zuletzt intensiv auseinandergesetzt hat. Das Dialektische vom „Glauben ohne Hoffnung auf Hoffnung“ setzt Walser in den brieflichen Dialogen zwischen Basil und Maja literarisch um. Das ist geschickt inszeniert. Und es ist demonstrativ inszeniert. Basil und Maja bleiben aufgeschriebene Figuren.

„Das dreizehnte Kapitel“ ist nicht auf Empathie, sondern auf die Diskurse hinter den Briefen angelegt. Ein Grundmotiv des Romans ist der Verrat: Basil verrät Iris, seine Ehefrau, nicht nur, weil Maja als Sehnsuchtspunkt existiert, sondern weil er in seinen Briefen auf geradezu bösartige Weise Vertraulichkeiten ausplappert. Maja wiederum fühlt sich durch ein Interview verraten, das Basil gegeben hat und in dem er die gleichen vorgestanzten Formeln verwendet wie stets – und das, obwohl sie doch nun in seinem Leben ist. „Entweder“, so schreibt Maja, „sind Sie beängstigend raffiniert oder grotesk unschuldig. Beides. Das weiß ich doch.“ Wenn man das als Selbstbeschreibung eines Schriftstellers begriffe, man läge wohl nicht völlig falsch. Basil Schlupp: „Die Welt entspricht uns nicht, habe ich gelesen, wir sollen ihr entsprechen. Ich habe ein Leben lang dieses Gebot, entsprechen zu müssen, ertragen und erfüllt. Und die Umwelt hat mich immer danach beurteilt, wie sehr oder wie wenig ich dem entsprochen habe, was sie von mir erwartet.“ Man kennt Sätze wie diese von Walser, der auch stets ein Empfindungs- und Formulierungsvirtuose in eigener Sache war.

Zwei große Teile hat der luftig gedruckte Roman: Der erste geht um Maja, die Geliebte; der zweite um Maja, die Verschwundene. Auf einer Radtour in Kanada ist sie, gemeinsam mit ihrem todkranken Mann. Und dem iPhone. „Die meisten leiden ohne Gewinn“, schreibt Basil. Das lässt sich von ihm nun wirklich nicht behaupten. CHRISTOPH SCHRÖDER

Martin Walser: „Das dreizehnte Kapitel“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 272 Seiten, 19,95 Euro