Mode und Gesellschaft: Es wird Winter auf der Haut

Sie denken, in den dunklen und kalten Monaten hat bloß Konjunktur, was warm hält? Sie liegen falsch. Ein Überblick zu aktuellen Trends.

Bartträger mit Schirmmütze im Profil

Das „Face“ als Hauptkriegsschauplatz, der Bart als Zentrum: Dieser Herr nahm 2017 am Bart-Tag teil Foto: dpa

0. Warum wir was brauchen

Kaum haben sich Dachs, Fuchs und Igel mit deftigen Kastanienmännchen etwas Winterspeck auf die Hüften gedengelt, trägt der deutsche Hipster auch schon Schwarz. Der Grund: Es ist Winter, mein Gott! Das merken Sie doch selber! Doch nicht nur Schwarz – auch Grau, Beige, Bunt, Warm, Kohle und Azur feiern ihr Revival. Und was ist mit Blumen? Alle wichtigen Wintertrends im Überblick.

1. Der sich mit Eigenhaar kleidet

Knebelbart, Mongolenbart, Backenbart oder Unterlippenbart „Soulpatch“: Ein Bart steht für Individualität. Das Face ist heutzutage schließlich der Hauptkriegsschauplatz und sollte daher nicht vergessen werden (wie auch). Gesichtsbehaarung verhält sich zu Neugier wie Zucker zu Socke: alles durcheinander. Umso wichtiger ist die Konzentration auf das Wesentliche – den Wuchs.

Um den zu fördern, schwört jede*r auf anderes. Ob Hautkiespastillen, magischer Heilstein aus Bremen, stündliches Wasserkochen oder Urlaub mit der toten Oma: Die Hauptsache ist der Effekt. Solange der Borstenschub vor dem Haarausfall einsetzt, bleibt Deutschland barttraktiv wie ein Witz über Friseurlädennamen.

Ab dann zählt jedes Gramm. Statt Bierkästen schleppt der coole Trendstudent seit Neuestem den eigenen Haarwurzelausstoß, genannt Vollbart, gestützt vom Rollator. Der Pump ist gigantisch. Zentnerbart? Bald keine Seltenheit mehr. Gut für den Rücken – gut für die Umwelt.

2. Die Schuhe für Faschismus hält

Supertrend Fuß: einfach unfußbar. Schlicht zum Aus-den-Latschen-Lecken. Dabei gilt es jedoch aufzupassen, denn das gemeine Unterdrückungsregime aus Macht-Herrschaft-Zauberkraft hat uns von Kopf bis Knöchel am Schlafittchen. Gieselha Nase (28) hat daraus die Konsequenzen gezogen: „Ich lehne jegliche Form von Fußbekleidung ab!

Gesichtsbehaarung verhält sich zu Neugier wie Zucker zu Socke: alles durcheinander

Ich will mich endlich wieder spüren“, so die Nageldesign-Studentin aus Magdeburg. Wie so viele andere nervige Menschen läuft sie barfuß durch die Gegend. Und zwar auch im Winter! Schuld an der generellen „Faschokacke“, die sie analysiert, trägt für Nase die „internationale Schuhlobby, zwinker, Sie wissen, wen ich meine – die Deichmanns dieser Welt eben. Tod Israel!“

3. Der mit seiner Brille spricht

Unsere verrückten Nachwuchsforscher wieder! Was ist es diesmal? Leistungsdruck? Einsamkeit? Zukunftsangst? Feueralarm? Nein, schlimmer, seltsamer, crazyger: Ein Internettrend namens #academicswithglasses lenkt den Blick auf die kleinen Freunde der großen Denker – posten, was die Brille macht. Denn so viel ist sicher: Die Dinger haben ihre Tücken.

Kaum umgedreht (zum Beispiel zur Wand, um zu heulen), sitzt die Brille auch schon auf dem Kühlschrank, hängt lässig vom Laptop oder kreischt elendig, weil sie Svon zwei schweren Keilrahmen eingequetscht wird. Manche wechseln auch, so schwören jedenfalls Promoventen des Forschungszentrums für angewandte Homologie in Ingolstadt/Frankfurt (Oder), je nach Laune ihre Farbe.

Vielleicht kommt das aber auch von den Wahnvorstellungen, die jahre-, ja jahrzehntelange Lektüre und Relektüre von Husserliana und Kafka-Exegesen in den Hirnen der possierlichen Nerds in stetiger, sicherer Höhlung erzeugten. „Ich weiß es doch auch nicht! Bitte gehen Sie jetzt – ich muss Hundefutter kochen“, sagt Ludger R. (42) aus Freiburg. Zynisch: Zur Erforschung des Netzphänomens soll nun ein Promotionskolleg gegründet werden.

4. Die sich wie wild in ­Schalwerdung ­wickeln

Der heilige Stoff für den modischen Studi: Wie ein Netz aus intertextueller Referenzdichte webt sich die Verschalung seiner selbst um ihn. Spätestens Mitte September werden die Schlaufen des Todes aus dem Schrank gekramt; wird Kälte zu eisigem Frost; werden harmlose Luftmoleküle zu taktischen Waffen im Isolierschichtkrieg; wird nackte Haut zu schlaffem Schal.

Es stofft sich, es wickelt und türmt sich und wird seine eigene Werdung. Wie ein vier Tonnen schwerer Salat schleppt sich der textile Ballaststoff in Schlaufen unter, vor und um den Kopf. Ein klarer Fall von Mimikry: Wie menschliche Perserkatzen taumeln die so Überladenen, verwöhnt von Mutter, Staat und kostenlosen Straßenschildern, ganz irre durch die Stadt.

„Ich bin ein Schal“, wollen sie sagen – dabei hat sich der diskursive Schleier schon in alle Richtungen verstreut, ist die Schalwerdung-Werdung längst uneinholbar geworden. Verflucht sei der Faden!

5. Die sich den Baustoff ins ­Rektum reinhämmern

Während ihrer fremdfinanzierten Faultauschsemester nach Grönland mit Geilheit auf Fun und Abenteuer angefüllt, probiert die junge studentische Zielgruppe einfach alles aus, was geht: Sex unterm Schreibtisch, 100 Seiten Habermas auf einmal, sieben Jever Fun hintereinander. Der alte 68er-Spruch entfaltet hier seine volle Gültigkeit – wer sich erinnern kann, war nicht dabei. Mehr noch: Wer dabei war, kann auch nicht dabei gewesen sein. Und umgekehrt.

Nachdem sie sich schon alle verfügbaren Drogen (inklusive der Rotze ihrer zu betreuenden bolivianischen Nachhilfeschüler) durch die Nase gezogen haben, kommt nun der Anus dran. Mega-Faszinosum Mörtel: Eine Handvoll kritischer Humangeographen der TU Dortmund hat es tatsächlich geschafft, sämtliche Bausünden der Bundesrepublik unter Einsatz ihrer Lenden nachzubilden. Wahnsinn!

6. Der irre Hype um Altersflecken

Das Ärmliche, Ältliche, Kränkliche, darauf, ja, stehen wir doch. Finden zumindest die vor Gesundheit ganz rosigen Tuttis der Generation Schnupfenselfie. Falten, Cellulite, Haarausfall, Gerüche und seltsame Flecken: Verbunden mit der immer höheren Lebenserwartung der Alten und Superalten verschieben sich die Komplexe und Sexfantasien im kollektiven Imaginären zusehends gen Oma und Opa – und wecken Begeisterung für die Insignien des nahenden Todes.

„Es ist ein bisschen wie Containern“, sagt Fynn Rosto (24) aus Leipzig/Ost. Vor anderthalb Jahren ließ er sich das erste Mal „droppen“. Seitdem ist er süchtig. Damit nicht genug: Mit einem Bleistift und einer Plastikgabel machte er sich inkontinent; in einer 38-stündigen Operation unter Vollnarkose ließ er sich alle Zähne und den Orientierungssinn entfernen; dank über einen Tropf zugeführter Medikamente steht er ständig kurz vor einem Herzinfarkt.

Doch der Aufwand ist es wert, findet Rosto: „Die Mädels fahren voll drauf ab.“ Verliebte, Verrückte, sagt der Lateiner und meint es auch so.

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