Kolumne Die eine Frage: Das Kretschmann-Trittin-Schisma

Das meistbenutzte Wort von Emmanuel Macron ist en même temps, auf deutsch: gleichzeitig. Wird dieser Begriff 2018 prägen?

Emmanuel Macron bei seiner Neujahrsansprache in paris

Gleichzeitig – en même temps –… Emmanuel Macron während seiner Neujahrsansprache in Paris Foto: dpa

Ich kenne den Politiker Ralf Stegner nicht persönlich. Wenn man nur seine Twitter-Einlassungen unter dem Motto „Guten Morgen aus Bordesholm“ liest, ist die Gesellschaft rettungslos verloren. Wie der stellvertretende SPD-Parteivorsitzende sich da zur politischen und gesellschaftlichen Realität verhält, also wie hartnäckig er ihre Veränderung und Komplexität Tweet für Tweet ignoriert; das ist nicht mehr parteistrategisch oder bürgernah, das ist grotesk verantwortungslos.

Stegner ist aber nicht der einzige Politikerdarsteller aus einem Schwarz-Weiß-Film, nur ein besonders bemerkenswertes Beispiel. Es wird im Zuge der Sondierungen zwischen Union und SPD darum gehen, das Problem der weitgehend selbstbezogenen Parteien zu diskutieren. Gleichzeitig aber nicht in ein rechts- oder linkspopulistisches Eliten-, Parteien- und Demokratie­bashing zu verfallen.

Gleichzeitig, en même temps, ist das Wort, das der sozialliberale französische Präsident Emmanuel Macron am häufigsten benutzt. Damit umzugehen, dass etwas so ist und gleichzeitig auch anders, kann einen verrückt machen. Aber es ist die Grundformel für die anstehende demokratische Modernisierung der europäischen Gesellschaft, ihrer Wirtschaft und Institutionen. Plus ihrer Medien.

Konkret: Der politische Kampf gegen den Klimawandel wird viel zu zaghaft geführt, alles geht zu langsam. Dennoch ist es falsch, daraus zu folgern, es brauche wieder eine „unbequeme“ sozial­ökologische Partei, die das Notwendige „radikaler“ formuliere. Es ist alles formuliert.

Die gruseligen Folgen der Erderhitzung beim Parteitag geil zu beschreiben ist nicht „unbequem“, sondern superbequem, weil komplett konsequenzlos. Unbequem ist es, einen neuen gesellschaftlichen Kompromiss des Gebens und Nehmens zu suchen, um andere Teile der Gesellschaft für die aus eigener Sicht prioritären Veränderungen zu gewinnen.

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Wenn nun die Langsamkeit eindeutig das Problem ist, so ist es auch gleichzeitig die Schnelligkeit. Brandenburg ist für den Berliner Kosmopoliten der Gruselort der kulturellen Tristesse und der Nazis und gleichzeitig der Sehnsuchtsort, an dem er auf seiner restaurierten Datsche der urban-postmodernen Gesellschaft zu entkommen hofft. Das Problem, das viele mit Macron haben, besteht darin, dass er mit der problematischen Langsamkeit politischer Prozesse gebrochen hat. Alles scheint plötzlich rasend schnell zu gehen.

Die Diskurse der Mediengesellschaft wiederum sind nicht nachhaltig genug, sondern zu schnell und zu flüchtig. Zack, zack, fack. Und gleichzeitig von großer kultureller Starrheit geprägt, die die Fixierung der Parteien auf gestern, die Oberfläche und sich selbst nicht ernsthaft in Frage stellt.

Es geht nicht darum, die SPD zu retten, die Union, Merkel oder dass sich der Realo-Flügel der Grünen gegen den anderen durchsetzt. Es geht 2018 darum, gegen das autoritäre Angebot und seine Stichworte eine Zukunftsdiskussion in einem europäischen und sozialliberalökologischen Rahmen durchzusetzen.

Es ist manchen nicht entgangen, dass ich höchste Wertschätzung habe für den kulturellen Quantensprung, der Baden-Württembergs Ministerpräsident gelungen ist.

Gleichzeitig ist es so: Wenn die Bundesgrünen doch noch der politische Vertreter dieser gesellschaftsliberalen Postvolksparteien-Gesellschaft werden wollen, müssen sie das Kretschmann-Trittin-Schisma überwinden. Nur auf dieser Grundlage können die beiden neuen Parteivorsitzenden das ewige Selbstgespräch beenden und dadurch doch noch in den gesellschaftlichen Kampf unserer Generation eingreifen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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