Der Druck der Heimlichtuerei

NEW YORK Ira Sachs’ „Keep the Lights on“ zeigt in bewegenden Bildern die Geschichte einer Beziehung

Erik muss die Kraft aufbringen, seinem Freund Paul zu helfen, obwohl er selbst emotional labil ist

„Worauf stehst du?“, fragt Erik die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich bin ein sportlicher Typ“, sagt er, und dann: „Ach so, schade.“ Den nächsten Anrufer fragt er: „Was machst du gerade?“ – „Meiner ist 21 Centimeter lang. Ich bin unbeschnitten.“ – „Wo wohnst du?“ – „Hast du gerade Lust auf Sex?“ – „Nein, ich komm zu dir.“ Kurze Zeit später steht Erik in der Wohnung von Paul, die beiden haben Sex. „Übrigens“, meint Paul am nächsten Morgen, „hab ich eine Freundin. Also mach dir keine Hoffnungen.“ Kurz darauf landen sie wieder im Bett.

Der New Yorker Regisseur Ira Sachs rauscht mit schöner Beiläufigkeit durch die Frühstadien einer Beziehung. Anders als im Boy-meets-Girl-Genre ist das Kennenlernen im schwulen Liebesfilm, so scheint es, nicht das Problem. Viel schwieriger gestaltet sich das Zusammenbleiben: gegen die gesellschaftlichen Widerstände, gegen das eigene Gefühl der Scham und im ständigen Widerspruch von sorgenloser Promiskuität und der letztendlich bürgerlichen Sehnsucht nach einer stabilen Beziehung. Davon erzählt Sachs’ vierte Regiearbeit „Keep the Lights on“ über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren.

Der Film beginnt 1998. Das Datum ist nicht willkürlich gewählt, für Sachs ist mit diesem Zeitraum eine längere Phase der Selbsthinterfragung verbunden. Was ist geblieben von den emanzipatorischen Kämpfen der Vergangenheit? Was von den Errungenschaften der schwulen Kultur in Amerika, speziell in New York? Und welche Spuren haben sie im schwulen Selbstverständnis hinterlassen? Für Sachs steht mit „Keep the Lights on“ einiges auf dem Spiel, das spürt man gleich an der Intensität und Schonungslosigkeit der Gefühle – als wäre die verzweifelte Liebe der letzte Halt in einer langsam auseinanderbrechenden Welt. Sachs beschreibt im deutschen Presseheft, wie prägend der Druck der Heimlichtuerei für die homosexuelle Identität noch immer ist.

In „Keep the Lights on“ ist es Paul, der ein Geheimnis hat, das er Erik früh anvertraut. Nach dem Sex holt er eine Crackpfeife heraus. „Davon darfst du niemandem etwas erzählen“, erklärt er Erik. „Die Leute tratschen.“ Liebe und Drogen sind eine gefährliche Mischung. Eriks bedingungslose Aufopferung verstärkt Pauls Sucht noch, bis er irgendwann nicht mehr zur Arbeit erscheint. Erik ist genauso abhängig – von Paul, dem er zu helfen versucht und sich darin fast selbst aufgibt. Sachs hat so eine selbstzerstörerische Beziehung selbst erlebt. Sein damaliger Partner Bill Clegg schrieb über seine Drogenerfahrungen vor Jahren den Roman „Porträt eines Süchtigen als junger Mann“.

„Keep the Lights on“ beschreibt die Geschichte nun aus der Perspektive des vermeintlichen Stärkeren. Erik muss die Kraft aufbringen, Paul zu helfen, obwohl er selbst emotional labil ist. Das tut schon beim Zusehen weh, aber Sachs schafft mit seinen Bildern eine Intimität, die zutiefst bewegt. Als der verwahrloste Paul sich von einem jungen Schwulen für etwas Geld ficken lässt, sitzt Erik stumm neben ihm auf dem Bett und hält die Hand seines Freundes.

Sachs’ Film geht über die „Konventionen“ eines schwulen Beziehungsdramas weit hinaus. Er will das Schweigen brechen. „Das Starke und Politische daran ist“, hat Sachs über seinen Film gesagt, „dass wir aus einer Geschichte kommen, in der unsere Geschichten nicht erwünscht waren.“ Auch Erik arbeitet an einem Film, einer Dokumentation über Avery Willard. Willard ist dem Vergessen anheimgefallen, obwohl er sich als Fotograf in den fünfziger und sechziger Jahren im Epizentrum der New Yorker Schwulenszene befand. Im Film wird „In Search of Avery Willard“ zur Berlinale eingeladen, wo er den Teddy Award gewinnt. Den gewann „Keep the Lights on“ in diesem Jahr tatsächlich. Die Dokumentation „In Search of Avery Willard“ nahm während der Dreharbeiten als eigenständiger Kurzfilm Gestalt an. So ist Sachs’ Film auch eine Chronik der schwulen New Yorker Künstlerkolonie; die unwirklich schöne Musik stammt von Arthur Russell, der 1992 an Aids starb. Doch „Keep the Lights on“ versucht nicht, die Toten zu zählen. Es geht um das Leben und den Schmerz der Veränderung. ANDREAS BUSCHE

■ „Keep the Lights on“. Regie: Ira Sachs. Mit Thure Lindhardt, Zachary Booth u. a. USA 2012, 102 Min.