Marina Mai besucht den Vortrag „Deutsche mit vietnamesischen Eltern“
: Ein Riss durch die Familien

Fast drei Viertel der vietnamesischstämmigen Schüler in Deutschland beenden die Schule mit dem Abitur. So das Ergebnis von Studien aus den Jahren 2008 und 2010, den geburtenstarken vietnamesischen Jahrgängen. Die damaligen Schüler und heutigen Erwachsenen wurden in den Jahren nach der Wende geboren, als ehemalige DDR-Vertragsarbeiterinnen Kinder bekommen durften, was ihnen in der DDR versagt war.

Inzwischen ist die zweite Generation der Einwanderer aus Fernost längst in den Universitäten und im Berufsleben angekommen. Vietnamesischstämmige Studierende an der Freien Universität erforschen unter Leitung der Ethnologin Birgitt Rottger-Rössler in einem Sonderforschungsbereich die emotionalen und affektiven Dimensionen von Migration und Bildungserfolg.

Von „Deutschen mit vietnamesischen Eltern“ handelt der Vortrag der Wissenschaftlerin am Mittwoch am Deutschen Theater. Denn Eltern und die inzwischen erwachsenen Kinder würden sich unterschiedlichen Staaten, Lebenswelten und Werteordnungen zugehörig fühlen. Durch viele Familien ginge ein emotionaler Riss.

Dung Do, 25 und angehender Informatiker, besuchte den Vortrag und erinnert sich an seine Teenagerzeit: „Wenn meine Eltern zu Hause waren, lief im Fernsehen das vietnamesische Staatsfernsehen. Das interessierte mich nicht, ich hörte gar nicht zu.“ Die Sprache verstand er auch nur rudimentär.

Seine Eltern betrieben einen Imbiss. Das bedeutete Selbstausbeutung sieben Tage in der Woche. Dung Do hat den Kindergarten besucht und überall nur Deutsch gesprochen, sich mit den Werten der Mehrheitsgesellschaft identifiziert. Seine Eltern sprechen bis heute nur wenig Deutsch.

Die konfuzianische Kultur fordert strikte Unterordnung von Jüngeren unter die Älteren, von Kindern unter Eltern und die in Vietnam lebenden Großeltern. Diesen Erziehungsstil könne man in der Migration jedoch nicht durchhalten, weiß die Professorin. Davon erzählt auch ein Vietnamese um die 60 aus dem Publikum. Die schlecht Deutsch sprechenden Eltern seien hier auf ihre Kinder angewiesen, sagt er. Sie brauchen sie als Übersetzer und Sachverständige bei Behörden. Diese Abhängigkeit breche konfuzianische Hierarchien.

Die konfuzianisch geprägte Erziehung steht der in Deutschland praktizierten gegenüber, die auf Individualität und Verständnis setzt. Ein Arbeitskreis von vietnamesischen Vereinen in Berlin, Sozialarbeitern und Psychologen trifft sich regelmäßig, um sich zu den Folgen fachlich auszutauschen.

Denn oft kommen vietnamesische Jugendliche nicht mit den strengen Regimen in ihren Familien klar. Die Kinder sollen gute Leistungen in der Schule bringen, zu Hause und im Geschäft der Eltern mithelfen. Da bleiben oft nicht die Freiräume für individuelle Interessen. Die Prügelstrafe ist in vietnamesischen Familien nicht tabuisiert.

Birgitt Rottger-Rössler hat an so einem Vernetzungstreffen teilgenommen. „Ich habe nach den vielen Kritiken an den Erziehungsstilen in vietnamesischen Familien gefragt, ob dieser Stil nicht auch Vorteile hätte“, sagt sie. „In der Runde saßen überwiegend Menschen mit vietnamesischen Wurzeln. Auf meine Frage herrschte lange Schweigen. Das hat mich betroffen gemacht.“ Dann sei es eine deutsche Sozialarbeiterin gewesen, die das Schweigen gebrochen habe. „Sie sagte, im Unterschied zu deutschen Familien, mit denen sie arbeite, finde in vietnamesischen Familien Zukunftsorientierung und eine Förderung der Selbständigkeit der Kinder statt.“ Rottger-Rössler nennt einen weiteren Vorteil: „Da werden keine kleinen Narzissten erzogen.“