Den Kopf riskieren

Beim Super Bowl krachen am Sonntag die Spieler der New England Patriots und Philadelphia Eagles aufeinander. Die vielen Kopf-erschütterungen im American Football bewirken oft schwere Erkrankungen des Gehirns. Doch der Druck wächst: Die mächtige Profiliga NFL muss auf Kritiker zugehen

Die New England Patriots im Einsatz: Jacob Hollister (rechts unten) hat seinen Helm verloren Foto: imago

Von Alina Schwermer

Als Tom Savage, Quarterback der Houston Texans, nach dem frontalen Zusammenprall stürzt, schlägt sein Kopf direkt auf den Boden auf. Zwei Gegner der San Francisco 49ers fallen auf ihn. Savages Hände zittern, als er versucht aufzustehen. Er verliert die Kontrolle über seinen Körper, wirkt desorientiert und benommen. Tom Savage wird zum medizinischen Check-up gebracht. Wenige Minuten später kehrt er zurück aufs Feld. Er spielt das Viertel zu Ende, kehrt erneut an die Seitenlinie zurück. Wieder will Tom Savage weitermachen. Erst da wird er von einem Offiziellen gestoppt und in die Kabine gebracht. Er fällt für die nächsten Wochen wegen Gehirnerschütterung aus.

Das Video aus der NFL-Partie der Houston Texans von Anfang Dezember ist in den USA mittlerweile auf zig Sendern gezeigt worden. In einem Land, dessen Präsident behauptet, „Football ist weich geworden“, wird die Debatte doppelt laut geführt. Und nur vordergründig geht es dabei um das martialische Weitermachen mit Brummschädel wie im Fall Savage.

Ein Footballer erleidet im Laufe seiner Karriere zahllose kleine Kopferschütterungen, die kein Concussion Protocol erkennt. Deren sehr wahrscheinliche Folge lautet abgekürzt CTE, Chronisch Traumatische Enzephalopathie. Eine Hirnkrankheit, die sich in Demenz, Gedächtnisverlust oder Depressionen ausdrücken kann, aber auch in charakterlichen Veränderungen und Orientierungslosigkeit. Die immer deutlicheren Zusammenhänge sind für die NFL ein Problem.

„Alle Beweise deuten daraufhin, dass Hirntraumata CTE verursachen“, sagt Chris Nowinski. „Es gibt keine andere Hypothese, die das erklären könnte. Das bedeutet, dass wir das Spiel verändern müssen.“ Nowinski ist in der Szene jener Menschen, die im Football laut über CTE sprechen, so etwas wie der Promi. Der US-Amerikaner war Footballer und Profi-Wrestler und musste die eigene Karriere aufgrund von Kopfverletzungen beenden. Er hat ab 2006 die CTE-Debatte laut gemacht; er legt sich seit Jahren mit der NFL an. Nowinski gründete die „Concussion Legacy Foundation“ und ist an den wichtigsten Studien zum Thema beteiligt, auch jener von der Boston University 2017, die international hohe Resonanz fand: Sie untersuchte 111 Gehirne verstorbener Footballer – in 110 davon fand sich CTE.

Vor rund einem Jahr war die NFL gezwungen, zum ersten Mal offiziell Zusammenhänge einzuräumen. Zuvor hatte man viel dafür getan, das Thema klein zu halten: Journalisten, Spieler und Ärzte berichteten davon, unter Druck gesetzt worden zu sein; die eigenen Forschungen der NFL waren laut einer unabhängigen Untersuchung absichtlich fehlerhaft. Studien ohne NFL-Einfluss kommen zu anderen Ergebnissen. Etwa die Studie der Bostoner Forscher, die die Gehirne verstorbener NFL-Spieler untersuchten.

„Die NFL versucht bei jeder Gelegenheit, die Sache zu verharmlosen“, sagt Nowinski. „Spieler sagen, die NFL setzt sie unter Druck. Aktuelle Spieler reden nicht über CTE aus Angst, mit der Krankheit assoziiert zu werden. Und die NFL schmeißt Geld raus für Helmdesign oder das Concussion Protocol. Meiner Meinung nach ist das Ablenkung von einer echten Diskussion über CTE.“ Die NFL versprach 2012 werbewirksam, 30 Millionen Dollar in die CTE-Forschung zu investieren; 2017 wurde der Vertrag mit den National Institutes of Health nicht verlängert. Denn die NFL hatte 18 Millionen schlicht nicht überwiesen. Außerdem habe sie sich „unkooperativ bei der Forschung“ gezeigt, so das Institut. In den USA polarisiert das Thema.

Inga Koerte ist vorsichtiger beim Thema CTE. Die deutsche Neurobiologin, die aktuell eine Gastprofessur in Harvard hat, ist eine der führenden Kräfte bei der Forschung zu Kopferschütterungen, CTE und Zusammenhängen mit Sport. Auch sie sagt, dass es einen Zusammenhang der Krankheit mit American Football zu geben scheint. Aber im Gegensatz zu Nowinski gibt sie noch keine Empfehlungen. Denn die bisherigen Studien haben ein Problem: Sie können CTE nur an den Gehirnen toter Athleten nachweisen. Und wer sein Gehirn der Forschung zur Verfügung stellt, hat sehr wahrscheinlich ein Interesse, CTE-Symptome abzuklären. „Wir können bisher nichts über die Prävalenz von CTE sagen“, erklärt Koerte. 99 Prozent CTE-Hirne heißt nicht, dass 99 Prozent der Footballer CTE bekommen. Oder haben. Aber, wie die New York Times schrieb: Selbst, wenn bei keinem anderen verstorbenen NFL-Spieler CTE festgestellt werden würde, lägen schon die bekannten Fallzahlen deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt.

In den USA ist die Debatte schnell eskaliert. Emotionale Geschichten einzelner Exfootballer gehen fast monatlich durch die Medien. Koerte sieht das mit gemischten Gefühlen. „Es ist ein schmaler Grat: Wir wollen eine öffentliche Debatte, aber keine Panikmache.“ Niemand kann bislang sagen, wie hoch das Risiko ist, wegen Football CTE zu bekommen. Aber natürlich waren es erst die Storys, die ihre Forschung in dem Umfang möglich machten. Das NIH gab zuletzt 16 Millionen Dollar für die Suche nach Biomarkern von CTE aus. „Der öffentliche Druck wächst, das ist eine sehr gute Entwicklung“, sagt auch Koer­te.

Sie ist eine Person, die der mächtigen NFL vielleicht so gefährlich werden könnte wie die lauten Agitatoren. Wenn gelingt, woran ihr Team forscht: CTE an Lebenden nachweisen zu können. „Wir werden das vermutlich nicht in den nächsten Wochen und Monaten können, aber ich hoffe, dass es nicht allzu weit in der Zukunft liegt. Es ist etwas, woran wir ganz konkret arbeiten.“ Das könnte vieles verändern. Nicht nur im Football.

Das Event

Der erste Sonntag im Februar ist in der Regel der Super Bowl Sunday. Etwa eine Milliarde Fernsehzuschauer werden erwartet, in Deutschland überträgt Pro7 aus Minneapolis das Finale der US-Profiliga NFL. Kickoff ist 0.30 Uhr MEZ.

Die Teams

Titelverteidiger New England Patriots trifft auf die Philadelphia Eagles. Bei den Patriots spielt Quarterback Tom Brady - nicht nur er macht sie zu Favoriten.

Die Show

Justin Timberlake wird in diesem Jahr in der Halbzeit­pause auftreten. Gerüchte, er hole Janet Jackson auf die Bühne, dementierte der Sänger. 2004 trat er mit Jackson auf und sorgte für das „Nipplegate“: Für einen kurzen Moment war Jacksons Brust entblößt.

Denn der Name Inga Koer­te ist in Deutschland vor allem aus anderem Zusammenhang bekannt: Studien zu Kopfbällen. 2012 wies die Forscherin als Erste nach, dass die Mikrostruktur in den Gehirnen jugendlicher Fußballer im Vergleich zu Nicht-Kontaktsportlern verändert war. Später entdeckte sie auch bei Exprofis Veränderungen im Vergleich zu Nicht-Kontaktsportlern. „Das war das erste Zeichen, dass Veränderungen der Gehirnstruktur nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig bestehen bleiben können.“ Ein kausaler Zusammenhang zwischen Kopfball und Gehirnveränderungen ist noch nicht belegt. Aber die Medizinerin sagt: „Da beim American Football ein Zusammenhang zu bestehen scheint, kann man sich das auch beim Fußball vorstellen.“ Sollte sie das nachweisen, muss auch Deutschland reden.

Noch ist das Thema hier kaum präsent – auch, weil es im Fußball deutlich weniger Exprofis mit sichtbaren Symptomen gibt als im Football. Und Football ist eben Randsportart. Beim AFVD, dem American Football Verband Deutschland, versucht man ein wenig, das Thema auf Abstand zu halten. „Wir sind besorgt, wenn Artikel zum Thema erscheinen“, sagt Vizepräsident Peter Springwald. „Aber wir fühlen uns nicht ganz so betroffen wie die NFL. Wir haben nicht die Spielintensität und die Geschichte. Die NFL hat sich 20 Jahre lang nicht wirklich bemüht, ihre Spieler zu schützen.“ In Deutschland seien die Spieler Amateure. „Wir trainieren zwei- bis dreimal die Woche, nicht zweimal am Tag. Das minimiert die Gefahr.“ Die Spiele sind weniger intensiv, auch weniger brutal, und die Spieler oft über weniger Jahre aktiv. Aber das bedeutet nicht, dass es keine Fälle gibt.

Im Sommer 2017 berichtete die Süddeutsche über den deutschen Exfootballer Erich Grau, der selbst annimmt, an CTE zu leiden. Seine Symptome ähneln frappierend denen der betroffenen Ex-NFL-Profis. Springwald sagt dazu: „Grau hat noch die wilden Zeiten im Football erlebt. Die Schutzausrüstung und Helme sind heute viel besser. Natürlich könnte ein alter Haudegen wie er in die Kategorie fallen.“ Auf die alten Zeiten weisen die Verbände gern hin. Und tatsächlich hat sich einiges verbessert. Das Bewusstsein für Kopfverletzungen ist gewachsen, es gibt mehr Schutz, Forschung zu Gehirnerschütterungen, Änderungen am Regelwerk, und in der NFL sogar unabhängige Neurologen am Spielfeldrand. Aber reicht das? Spektakuläre Gehirnerschütterungen wie die von Tom Savage lassen sich dadurch minimieren. Die regelmäßigen, kleinen Schädigungen aber eher nicht. „Reichen werden die Maßnahmen vielleicht nie“, sagt auch Springwald. Und dann?

Noch ist vieles unklar, die Fallzahlen in den Studien klein. Inga Koerte erwartet nicht, dass die Verbände etwas umsetzen, was sie noch gar nicht empfohlen hat. Chris Nowinski, natürlich, gibt Empfehlungen. Er fordert in den USA etwa, Tackling für Kinder unter 14 Jahren ganz zu verbieten, Kindern keinen Football an den Kopf zu werfen und Werbung für Jugendfootball ganz einzustellen. „Die größten Veränderungen können wir im Jugendfootball erreichen. Und darauf fokussieren wir uns.“ Die NFL werde sowieso so weitermachen wie bisher. Ob die Arbeit im Jugendbereich reicht, bezweifelt er allerdings selbst. „Vielleicht ist es wie damals, als man Filter an Zigaretten angefügt hat. Es hat nicht viel gebracht, aber damals schien es ein großer Schritt.“