Schnapsund Milch

In „Aufbruch“ von Ludwig Wüst begegnen sich zufällig zwei verwundete Seelen (Forum)

Von Barbara Wurm

Wie sieht jemand aus, dem es dreckig geht? Der leidet. Der wie ER (Ludwig Wüst), von Frau und Kind davongerannt ist oder wie SIE (Claudia Martini) den Mann verlässt und vom Schnösel-Kind enttäuscht wird. Sieht man es den Menschen an, was in ihnen vorgeht, wegen dem, was ihnen zugestoßen ist? Spürt man, in welchem Stadium der Reise zu den letzten Dingen sich der Mensch befindet? Wie hört sich das an, eine traumatisierte Seele? Wie ein Verstummen? Wie ein Schrei?

Die beiden Figuren, die sich in Wüsts „Aufbruch“ zufällig begegnen, auf einem Feldweg im Flachland irgendwo im Ostösterreichischen, sind Wesensverwandte. Aufgebrochene. Aber auch Gebrochene. Das macht sie zu Schweigenden. Für lange (Film-)Zeit ist das, was sie knapp und via Oldstyle-Handys mit ihren mal geliebten Menschen kommunizieren, unsere einzige verbale Informationsquelle zu ihrer Vergangenheit.

Alles andere erzählen die Dinge und Gesten, erzählt der Verlauf ihrer gemeinsamen fragmentarischen Erkundung des Schmerzes und der Einsamkeit. Das aber alles andere als tränendrüsenartig. Denn grunddepressiv ist hier immer auch ein wenig skurril.

Wenn die beiden ein wie auch immer motorisiertes gelbes Mini-Dreirad-Gefährt steuern zum Beispiel, zuerst der Mann, dann die Frau, während er stumm durch einen bunten Gladiolenstrauß guckt und sie – lächelt (das Ding gibt dann irgendwann den Geist auf, man rudert weiter). Oder wenn sie gegen Ende, in der gespensterhaften Betonlandschaft des Alberner Hafens sitzend, den jeweiligen Proviant vermengen – ihren Flachmannschnaps und seine Flaschenmilch: zu einem sicherlich köstlichen Milchschnaps.

In vielen kleinen, dichten Szenen, die kaum Plot-Funktion haben, sondern Momente, Gesten, Blicke sind, die zurückverweisen (und vielleicht nach vorn), formiert sich in „Aufbruch“ eine intensive, ganz intrinsische emotionale Spannung, die anders als in früheren Arbeiten Wüsts, seinem Langfilmdebüt „Koma“ (2009) etwa oder „Tape End“ (2011) – beide auch mit der großartigen Claudia Martini – dem Drang nach dem Exzessiven und Transitiven kein Ventil mehr zu öffnen scheint.

Kontemplation und Explosion verschlingen einander. Postdramatisch könnte man das nennen, was auch insofern passt, als das Kino des bayerischen Wahlösterreichers sich nicht nur in einem handverlesenen Cineasten-Kontext anzusiedeln weiß, sondern tief im zeitgenössischen Theater verankert ist (wohin Wüst zeitweise für Experimente migriert).

Nicht zuletzt in der vor allem auf der Ton­ebene fulminanten, irre langen und irre ohrenbetäubenden Trommelwirbel-Bootsfahrt, in der „Aufbruch“ längst seinen mythologischen Kern erreicht hat (eine Überfahrt auf dem Fluss Styx ist das natürlich) –, offenbaren sich die eigentlichen Qualitäten des entdramatisierten Filmdramas:

Es verlegt seine Ausdrucksmittel auf die Ebene einer medialen Sinnlichkeit, die hier besonders das Ohr und die Hand affiziert. Eine durch und durch konkrete, realistische Ästhetik vermittelt diese Haptik: als Arbeit der Hand, der Tischlerhand auf Holz, der Malerhand mit Wandfarbe. Bilder und Berührungen, die bleiben.

22. 2., 22 Uhr, Arsenal, 24. 2., 20 Uhr, Delphi Filmpalast