taz-Serie Neu-Berlinern: Die rebellischen Seiten der Stadt

Im neunten Teil ihrer Serie hat sich Henriette Harris mit dem italienischen Soziologen Roberto Sassi getroffen, kurz vor der Wahl in seinem Heimatland.

Führer zum Rebellischen

Roberto Sassi in Prenzlauer Berg Foto: André Wunstorf

Für einen Menschen, der ein Buch mit dem Titel „Guida alla Berlino ribelle“, also einen Reiseführer zum rebellischen Berlin, geschrieben hat, ist es wohl ungewöhnlich, sich im Café & Yoga zu treffen. Roberto Sassi hatte tatsächlich auch zuerst einen anderen und wilderen Ort in der nahe liegenden Kopenhagener Straße – was einer eingefleischten Dänin natürlich sehr gefällt – vorgeschlagen. Da aber war es voll, und so sind wir in dem Café hier gelandet.

Ich trinke Cappuccino, der 31-jährige Roberto Sassi trinkt Espresso. Um zwölf Uhr mittags ist es für einen Italiener schon zu spät für den ganzen Milchkram.

Sassi erzählt, dass er in Rom geboren ist, wo er Anthropologie studierte und dazu noch urbane Soziologie in Trento und Paris. Er hatte sich auch überlegt, dort an der Sorbonne eine Doktorarbeit zu machen, aber es wurde ihm klar, dass er sein Leben nicht der Forschung widmen wollte.

Also kehrte er nach Italien zurück und suchte sich eine Arbeit. „Ich habe aber nicht sehr intensiv gesucht. Die ganze Zeit wollte ich zurück ins Ausland und habe fast zufällig meinen Lebenslauf an ein Projekt in Berlin geschickt“, erzählt er.

Im Frühling 2015 kam Roberto Sassi nach Berlin und hat als Soziologe an dem Projekt „Erasmus für junge Unternehmer“ mitgearbeitet. „Dann habe ich mich entschieden, in Berlin zu bleiben“, sagt er.

Kompetenzen zusammenbringen

Der italienische Verlag Voland hatte eine Serie über Städte und ihre rebellischen Seiten aufgelegt. Da gab es zum Beispiel schon Bücher über Florenz und Barcelona, aber keines über Berlin. Das nun wollte Roberto Sassi schreiben.

Roberto Sassi

„In Italien ist Berlin oft mehr eine Idee, ein Begriff als eine Stadt“

Da hatte er bereits Teresa Ciuf­foletti kennengelernt, eine Übersetzerin, die seit vielen Jahren in Berlin lebt. „Ich habe Teresa vorgeschlagen, dass wir unsere Kompetenzen zusammenbringen und das Buch gemeinsam schreiben. Sie konnte die deutschen Quellen lesen, sie kannte die Stadt schon sehr gut, und sie hatte auch einen Einblick in wichtige Aspekte Berlins, die gar nicht mein Gebiet sind, wie zum Beispiel Musik, Undergroundkultur und die Skater am Alex“, grinst er.

Neu in der Stadt: Immer mehr internationale Zuzügler sind in den vergangenen Jahren nach Berlin gekommen. Sei es, weil die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in ihren Heimatländern nicht mehr stimmen, sei es, weil sie beruflich oder privat an der Spree neu durchstarten wollen.

Die Serie: Was suchen und was finden sie in Berlin? Unsere Autorin Henriette Harris, die 2004 aus Kopenhagen nach Berlin kam, stellt die Neuankömmlinge an dieser Stelle einmal im Monat vor.

Die beiden haben für ihr Buch auch französische und englische Texte abgeschöpft, um einen vielfältigen Blick auf Berlin zu bekommen. Im Juni vergangenen Jahres ist der Führer erschienen – und er ist auch ein Grund für Sassis Wunsch, in Berlin zu bleiben.

„Arbeit kann man überall finden, da gibt es wohl auch andere deutsche Städte, wo das einfacher ist. Aber wenn du ein Buch schreibst, bindest du dich an die Stadt auf eine andere Art und Weise“, sagt er und fügt hinzu: „Una città impigrisce.“ Heißt, dass eine Stadt faul macht. Wenn man lange irgendwo lebt, sieht man die Umgebung kaum mehr. „Aber ich war gezwungen, Berlin wirklich zu sehen, weil ich darüber schreiben wollte. Und es hat immensen Spaß gemacht, Berliner Geschichten über Orte und Menschen, die die gar nicht kannten, erzählen zu können“, sagt er.

Kein gewöhnlicher Reiseführer

Dass es sich bei dem Buch um einen gewöhnlichen Reiseführer handle, dachten zuerst seine Leser in Italien. Ist es aber nicht. Auf einer Lesereise durch sechs italienische Städte stellten er und Teresa Ciuffoletti dabei fest, dass viele Italiener Berlin eher schlecht kennen. „In Italien ist Berlin oft mehr eine Idee, ein Begriff als eine Stadt“, sagt Sassi. „Viele haben gesagt, dass sie das Buch fast wie einen Roman gelesen haben. Man kann es wirklich auch gut lesen, ohne nach Berlin zu reisen. Ich fand es schön, über die Stadt zu recherchieren und dann immer wieder neue Schichten, die interessant sind, zu entdecken“, erklärt Roberto Sassi.

Vorher hatte er sich noch nie von einer wissenschaftlichen, soziologischen Seite her mit Berlin beschäftigt, und in ihrem Buch versuchen die beiden Autoren, das touristisch bereits bekannte Berlin zu meiden. „Wir beschäftigen uns mit der Rebellion aus verschiedenen Per­spektiven – politisch, kulturell, sportlich, alltagsweltlich – und erzählen von Menschen, die rebelliert haben“, sagt er.

Seine eigenen Lieblingsgeschichten in dem Buch?

Roberto Sassi denkt nach. „Auf jeden Fall die allererste Geschichte in dem Buch, nämlich die über den Tunnel 29 in der Bernauer Straße. Auch weil darin zwei junge Italiener die Hauptpersonen sind. Sie waren so mutig und hatten so wenige Mittel, und trotzdem ist es ihnen gelungen, viele Menschen zu retten. Dass sie Ita­liener waren, ist ein Fakt, der in den deutschen Versionen dieser Geschichte nicht immer unterstrichen wird“, sagt er.

Die Geschichte ist, dass sich die beiden Studenten Luigi Spina und Domenico Sesta, die in Westberlin studieren, im Februar 1962 entscheiden, ihren Freund Peter und dessen Familie aus Ostberlin in die Freiheit zu verhelfen. Sie mieten einen Raum in der Nähe der Mauer und graben mit anderen eingeweihten jungen Leuten einen Tunnel, der in der Schönholzer Straße endet. Am Morgen des 14. September 1962 gelingt so 29 Menschen die Flucht durch den 123 Meter langen Tunnel.

Die Skater vom Alex

„Ich mag auch die Geschichte über die Skater am Alex“, sagt Roberto Sassi. „Den Gedanken, dass wir von diesem extrem touristischen Ort eine für Ita­liener vollkommen unbekannte Geschichte erzählen können: dass der Alexanderplatz Mitte der achtziger Jahre zum Sammlungspunkt für Skater oder Rollbrettfahrer, wie sie in der DDR hießen, wurde.“

In dem Buch wird erzählt, wie die ersten Skateboards aus dem Westen in die DDR kommen. Dort gab es keine, sie waren „zu amerikanisch“. Dem Regime sind die Skater ein Dorn im Auge, weil sie unpolitisch und gleichzeitig unabhängig sind. Der Versuch, sie in die staatlichen Sportvereine einzugliedern, um damit die Kon­trolle über sie zu erhalten, ist von Anfang an ein Misserfolg. Zwischen den Skatern aus Ost- und Westberlin entsteht nach Euro­skate, einem Wettbewerb, der 1988 in Prag stattfand, Solidarität. Die Westberliner geben ihren Freunden gebrauchte Skateboards, ein Junge mit ostdeutschem und finnischem Pass bringt sie über die Grenze.

Unter den Personen aus der Berliner Geschichte imponiert Roberto Sassi besonders Rosa Luxemburg. „Rosa Luxemburg war eine große Persönlichkeit, und wir haben ihr ein biografisches Kapitel gewidmet, weil wir sie gern bei den italienischen Lesern bekannt machen möchten. Die haben vielleicht mal ­ihren Namen gehört, wissen aber wahrscheinlich nicht, dass sie, versteckt auf einem Vieh­anhänger, von Polen nach Berlin flüchtete“, sagt er.

Auf dem Tisch im Café liegt eine Ausgabe des Freitags mit dem Hinweis, dass man auf der Website der Zeitung etwas von dem durch seine Recherchen zur Camorra bekannt gewordenen neapolitanischen Autor Roberto Saviano über „die Rückkehr des Faschismus in Italien“ lesen kann.

Am Sonntag sind Parlamentswahlen in Roberto Sassis Heimatland. Was denkt er? „Es liegt mir natürlich sehr am Herzen, was da passiert“, sagt er. „Glücklicherweise stellt sich die erfahrene Europäerin und ehemalige EU-Kommissarin Emma Bonino auch zur Wahl. Sie ist charismatisch und geschätzt, und es ist wichtig, dass sie in das Parlament kommt. Viel zu viele Politiker reiten auf der Welle der Immigration, der Situation des Euro. Sie nutzen die ökonomische Krise und die Flüchtlinge für ihre Zwecke aus. Das ist gefährlich. Emma Bonino ist das Gegenteil von ihnen. Für mich ist es wichtig, dass wir Italiener uns erinnern, Italien noch näher an Europa zu bringen. Ich möchte Italien gern immer mehr im Zentrum des europäischen Projekts sehen“, sagt Roberto Sassi. Und: „Ich bin auch für eine europäische Staatsbürgerschaft.“

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