Appell an die Menschlichkeit

ANTHROPOLOGIE Große Theorie oder großer Bluff? David Graebers Werttheorie

Graeber beruft sich auf das einflussreiche Buch des Ethnologen und Sozialisten Marcel Mauss über „Die Gabe“

VON RUDOLF WALTHER

David Graeber wurde berühmt als Galionsfigur der New Yorker Occupy-Bewegung und durch den weltweiten Erfolg seines Buches „Schulden“ im letzten Jahr. Es war dieser Bestseller, der den Verlag diaphanes bewogen haben mag, auf den Zug aufzuspringen und das fast 400 Seiten starke Buch „Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln“ herauszubringen. Das US-amerikanische Original erschien bereits 2001 und die Verlagsparole, es handle sich um das Gegenstück zu „Schulden“, ist durch den Inhalt des Buches in keiner Weise gedeckt. Graeber lehrte bis zu seiner Entlassung an der Yale University und inzwischen in London. Er bezeichnet sich selbst als Anthropologe und Anarchist.

Der US-amerikanische Originaltitel – „Toward an anthropological theory of value“ – trug Graebers Programm wie eine Standarte vor sich her. Neben einer Werttheorie als Basis für eine Alternative zur „Philosophie“ des Neoliberalismus will Graeber auch eine kritische Gesellschaftstheorie begründen und nebenher „die Rolle der Ethnologie bei der Entwicklung einer revolutionären Theorie“ skizzieren. Zwischendurch beschäftigt er sich auch noch mit der Geburt der Ethnologie im Zeitalter des Imperialismus und mit der Postmoderne als theoretischer Mode, die handlungsunfähig mache. Doch außer der Kritik an der Postmoderne und rund 250 Seiten Informationen über allerhand Bräuche und Sitten bei den indigenen Völkern Südamerikas, Afrikas und den Indianern Nordamerikas erfüllt Graeber keinen einzigen seiner zuweilen hochstaplerisch vorgetragenen Ansprüche.

Und das hat Gründe im theoretischen Zuschnitt des Buches. Graeber redet wie ein Philosoph des 17. Jahrhunderts von der „Natur des Menschen“, die Thomas Hobbes dem Wölfischen zuordnete und die er umpolen möchte auf sein Programm, wonach „Menschen fähig sind, den Lauf der Geschichte entscheidend zu beeinflussen“. Das ist nicht unsympathisch, aber grob gedacht, wenn man weder die Richtung der Beeinflussung noch die Träger einer solchen Richtungsänderung benennen kann. Graeber möchte mit seinem „Appell an die Menschlichkeit“ eine „humanistische Sozialwissenschaft“ begründen, „ohne dabei alles aufzugeben, was an der Idee von Wissenschaft wirklich wertvoll ist.“

Graeber unterschätzt zudem die Tücken einer Werttheorie. „Wert“ ist ein Relationsbegriff und die Relationslogik ein vermintes Feld der Mehr- und Uneindeutigkeit. Seine Definition, wonach Wert das ist, „wodurch Handlungen für den Handelnden Bedeutung gewinnen, indem sie als Teil eines größeren sozialen Ganzen betrachtet werden“, reicht nicht aus, um soziale Verhältnisse und Tauschrituale bei den Irokesen mit denen der Gegenwart sinnvoll zu vergleichen. Das Menschenbild vom neoliberalen Homo oeconomicus, der sich in der Welt des Minimax- oder des Geiz-ist-geil-Prinzips einrichtet, ist zwar ethisch-moralisch primitiver als das der sogenannten „primitiven Gesellschaften und Völker“, aber empirisch viel vertrackter als das wenige, was man über das Weltbild der Melanesier, Madagassen oder Irokesen weiß.

Graeber beruft sich auf das einflussreiche Buch des Ethnologen und Sozialisten Marcel Mauss (1872–1950) über „Die Gabe“ (franz. 1923, dt. 1950), aber was damit für eine Wert- oder Gesellschaftstheorie gewonnen ist, bleibt im Diffusen. Viele seiner Vereinfachungen sind nicht ganz falsch, doch insgesamt zu wenig komplex.

So predigt er einen politischen Voluntarismus, wenn er Marx darauf reduziert, für diesen seien „Produktion und Revolution […] die beiden exemplarischen Handlungen“. Graeber versteht Gesellschaft als „intentionale Angelegenheit“ und begreift die Herrschaft des Neoliberalismus als Ergebnis einer Gesellschaftstheorie, die „sich nicht mehr vorstellen kann, dass die Leute in der Lage sind, die Gesellschaft bewusst zu verändern“.

Damit begibt er sich auf das Niveau der 99-Prozent-Parole der Occupy-Bewegung. Mit einer Mischung aus Voluntarismus und geschichtsphilosophischer Spekulation wird der schlechten Realität die Melodie vom virtuellen Untergang vorgespielt.

David Graeber: „Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln“. Dt. v. Grabinger, Koch, Stumpf, Werbeck. diaphanes, Zürich 2012, 447 S., 24,95 Euro