Artenvielfalt und Ökosysteme in Gefahr: Raubbau ist ein mieses Geschäft

Der UN-Rat für Biodiversität legt zum ersten Mal globale Daten zum Artensterben vor. Nicht nur die Umwelt, auch die Wirtschaft ist bedroht.

Zwei Nashörner

Kenia; das linke ist eines der beiden letzten verbliebenen weiblichen Nördlichen Breitmaulnashörner Foto: dpa

BERLIN taz | Der Tod von „Sudan“ wirkte wie eine deutliche Mahnung. Als das letzte männliche nördliche Breitmaulnashorn vergangene Woche in Kenia wegen Altersschwäche eingeschläfert wurde, erreichte die große Konferenz zur Artenvielfalt in Kolumbien ihren Höhepunkt. Die Aufmerksamkeit für Sudans Ende machte deutlich, was dauernd unbemerkt passiert.

Nun liegt mit den Berichten des UN-Rats zur Biodiversität (IPBES) zum ersten Mal eine umfassende Untersuchung (.pdf) auf dem Tisch, die den Verlust der Artenvielfalt und der Ökosysteme auf der ganzen Erde umfasst. Der Tenor: Die Zerstörung der Umwelt ist nicht nur ein ökologisches oder ethisches Problem. Sie ist auch ein schlechtes Geschäft.

Drei Jahre lang haben 550 Experten aus über 100 Ländern alle verfügbaren Studien zu dem Thema gesichtet. Gemeinsam haben sie am Freitag in Medellín vier Länderberichte über den ökologischen Zustand der Kontinente präsentiert. Sie nennen sich „zwischenstaatliches Gremium zu Biodiversität und Ökosystem-Dienstleistungen“ (IPBES) und läuten laut die Alarmglocke: „Biodiversität, die überlebenswichtige Vielfalt der Lebensformen auf der Erde, geht weiter in allen Regionen zurück“, heißt es.

„Der dramatische Rückgang reduziert signifikant die Möglichkeit der Natur, zum Wohlergehen der Menschen beizutragen. Dieser Trend gefährdet die Wirtschaft, Lebensunterhalt, Ernährungssicherheit und die Lebensqualität überall.“

Thema aus der „Öko-Ecke“ holen

Die Experten wollen das Thema aus der Öko-Ecke holen. „ ‚Biodiversität‘ klingt vielleicht für viele Menschen akademisch und abgehoben“, sagte IPBES-Chef Sir Robert Watson. „Nichts könnte weiter entfernt sein von der Wahrheit.“ Die Vielfalt des Lebens sei „die Grundlage für unser Essen, sauberes Wasser und Energie“.

Die Wissenschaftler kalkulieren mit „Dienstleistungen“ der Natur in ökonomischen Kennziffern: Die Reinigung von Wasser und Luft, die Fruchtbarkeit des Bodens, die Bestäubung von Pflanzen oder der Schutz vor dem Klimawandel, alles hat einen ökonomischen Nutzen. Um ihn zu erhalten, lautet Watsons Schlussfolgerung: „Wir müssen handeln, um den nicht nachhaltigen Umgang mit der Natur zu stoppen und umzukehren. Die Zeit, zu handeln, war schon gestern oder am Tag davor.“

Die Wissenschaftler warnen vor dem Verlust ganzer Ökosysteme. So blieben in Asien beim jetzigen Trend bis Mitte des Jahrhunderts kaum noch Fische zu fangen. In Europa verzeichneten 42 Prozent aller Landspezies im letzten Jahrzehnt einen Rückgang. In Amerika hat sich die Verfügbarkeit von Trinkwasser seit 1950 um die Hälfte reduziert. Besonders betont der Bericht, dass der Verlust der Natur auch die Ökonomie bedrohe. Allein in Nord- und Südamerika sei der Wert der Naturdienstleistungen so hoch wie das Sozialprodukt.

Hunderte von Millionen Menschen in Afrika und Asien seien für Nahrung und Überleben direkt auf funktionierende Ökosysteme angewiesen. Hauptgrund für den Verlust sind nach den Berichten die Zerstörung von Lebensraum durch den Bau von Städten und Straßen, die Verschmutzung, der Klimawandel, die Einwanderung von fremden (invasiven) Arten von Tieren und Pflanzen.

Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln

„Wir brauchen dringend eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch“, sagte Elsa Nickel vom Bundesumweltministerium, die Deutschland bei der Konferenz in Kolumbien vertrat, gegenüber der taz. Mit den Reports lägen nun die wissenschaftlichen Daten vor, an denen in Zukunft keine Regierung mehr vorbeikomme – auch deshalb nicht, weil die IPBES-Berichte von den Delegationen der Mitgliederstaaten abgenommen wurden. Die EU etwa sei wegen der Subventionen für die Fischerei deutlich kritisiert worden.

Lob kommt auch von Günter Mitlacher, der für den Umweltverband WWF das Treffen beobachtet hat. Anders als beim Klimarat IPCC seien die IPBES-Abschlusspapiere „nicht verwässert, sondern sogar klarer geworden“. Die Fakten seien klar beschrieben, „es gibt für die Politik keine Ausreden mehr“. Wie viele andere hofft auch Mitlacher, dass sich die Biodiversität an der Klimapolitik orientiert: mit den Expertenpapieren einen internationalen Prozess anzustoßen, der am Ende in einen weltweiten Vertrag mündet.

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NORD/SÜDAMERIKA

Zustand– 95 Prozent der nordamerikanischen Prärielandschaften seit Beginn der europäischen Besiedlung in Agrarland verwandelt– 17 Prozent des Amazonas-Regenwalds verloren– ökologische Belastung durch den Menschen seit 1960 verdoppelt bis verdreifacht

Wirtschaftliche Bedeutung– Wert von Dienstleistungen der Natur: 24,3 Billionen Dollar pro Jahr, vergleichbar mit der Wirtschaftsleistung der Region– Wert allein für die USA: 5,3 Billionen Dollar, Brasilien: 6,8 Billionen Dollar

Ausblick– Bevölkerungswachstum um 20 Prozent gegenüber heute auf 1,2 Milliarden bis 2050– Verdopplung der Wirtschaftsleistung bis 2050 prognostiziert– ohne grundlegende Änderung Verlust von 40 Prozent der ursprünglichen Artenvielfalt und Ökosysteme (seit Besiedelung) bis 2050, bedingt auch durch den Klimawandel

Lichtblick– Zunahme Waldfläche im Norden (0,4 Prozent) und in der Karibik (43 Prozent) seit 1960

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AFRIKA

Zustand– 500.000 Quadratkilometer Land unbrauchbar für Ökodienstleistungen– 62 Prozent der ländlichen Bevölkerung sind für ihr Überleben direkt abhängig von der Natur– Afrika südlich der Sahara: Region mit weltweit größten Ernährungsproblemen, 25 Prozent der Bevölkerung hungerte von 2011 bis 2013

Wirtschaftliche BedeutungWert der Natur:– jährlich 40.000 Dollar pro km2 für Wasser­reinigung in Westafrika­– 14.000 Dollar pro km2 jährlich für CO2-Speicherung in Zentralafrika– 11.000 Dollar pro km2 jährlich für Verhinderung von Erosion in Ostafrika

Ausblick– Verlust von 50 Prozent der Vogel- und Säugetierarten bis 2100 durch Klimawandel– Abnahme der Produktivität der Seen bis 2100 um 20 bis 30 Prozent erwartet– Verdopplung der Bevölkerung auf 2,5 Milliarden bis 2100 erwartet

Lichtblick– 2 Millionen km2 Land unter Naturschutz, 2,5 Prozent der Meere geschützt

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ASIEN/PAZIFIK

Zustand– Verlust von 13 Prozent des Waldes in Südostasien durch intensive Landwirtschaft und Palmölplantagen– 37 Prozent der Pflanzen- und Tierarten im und am Wasser vom Aussterben bedroht– 8 von 10 Flüssen mit der weltweit höchsten Plastikverschmutzung; 95 Prozent der globalen Plastikmenge im Meer stammen von dort

Wirtschaftliche Bedeutung– Rasantes Wirtschaftswachstum der Region treibt die Naturzerstörung voran: jährlich 7,6 Prozent gegenüber weltweit 3,4 Prozent– 33,5 Milliarden Dollar jährlicher Verlust allein in Südostasien durch invasive Arten– 200 Millionen Menschen beziehen Medizin, Lebensmittel und Brennstoff aus Wäldern

Ausblick– Keine nutzbaren Fischbestände im Jahr 2048– 90 Prozent der Korallenriffe mit schweren Schäden bis 2050– Verlust von 45 Prozent von Arten und Lebensräumen bis 2050

Lichtblick– Nordostasien und Südasien mit jeweils 23 bzw. 6 Prozent Zunahme der Waldfläche

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EUROPA/ZENTRALASIEN

Zustand– Rückgang des Bestands von Fischarten um 71 Prozent und der Amphibienarten um 60 Prozent im letzten Jahrzehnt– Ein Viertel der landwirtschaftlichen Fläche der EU von Erosion betroffen– Rückgang der Verfügbarkeit von Wasser um 15 Prozent seit 1990

Wirtschaftliche Bedeutung– Wert der Dienstleistungen der Natur pro Jahr: 4.300 Dollar pro Hektar. Davon etwa 460 Dollar für Klimaregulierung, 1.100 Dollar für Tourismus/Erholung und knapp 2.000 Dollar für Regulierung der Wasserqualität

Ausblick– Beim jetzigen Trend beansprucht jeder Bewohner Westeuropas für Dienstleistungen der Natur jährlich 5,1 Hektar (ha) . Westeuropa verfügt aber pro Kopf nur über 2,2 ha Natur.– Osteuropa braucht 4,8 ha, hat aber 5,3 ha zur Verfügung; Zentralasien benötigt 3,4 ha pro Kopf, hat aber nur 1,7 ha „Biokapazität“.

Lichtblick– 1,6 Prozent der untersuchten Fischbestände vermehren sich infolge veränderter Befischung und Schadstoffreduzierung

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