Die dunklen Stücke

THEATER Halbzeit beim Festival Foreign Affairs in Berlin: mit neuen Stücken und Choreografien von Boris Charmatz, Anne Teresa De Keersmaeker und Rodrigo García

Man hört die Körper mehr, als dass man sie sieht, das Wischen der Füße im Sand, Schritte und Stimmen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Es ist unheimlich. Warum fürchte ich dauernd, dass etwas Schreckliches passiert? Erwachsene spielen auf der Bühne, sie spielen mit Kindern, die völlig passiv in ihren Armen liegen, wie mit Puppen; tragen sie, legen sie hin, bewegen einzelne Glieder, umwickeln die Köpfe der Kinder mit ihren Hemden – stopp. Dieses Bild ist eines der wenigen in „Enfant“, einem Stück des französischen Choreografen Boris Charmatz, das sich auf andere Bilder beziehen lässt, etwa auf die Fotos von Kriegs- und Folteropfern. Bei „Enfant“ sitzen die so Drapierten eine Weile irgendwo auf der großen Bühne, es geschieht weiter nichts Benennbares. Aber gerade das nicht Greifbare macht Angst.

Vor einem Jahr ungefähr kam „Enfant“ zuerst auf Kampnagel in Hamburg heraus und war seitdem mehrmals in Frankreich zu sehen. In Berlin war es nun ein Höhepunkt des Festivals Foreign Affairs. Das ist ein neues Format der Berliner Festspiele, das in diesem Jahr von Frie Leysen geleitet wird; 2012 tritt Matthias von Hartz, bis dahin Kurator auf Kampnagel, an. „Enfant“ war also im Haus der Berliner Festspiele gewissermaßen ein Vorausgesandter von Matthias von Hartz. Aber nicht nur deshalb war es programmatisch für dieses Festival, sondern auch in seiner düsteren Qualität.

Denn wie die zehn Tänzer mit der Gruppe von Kindern agieren, ist durchweg verstörend. Klar, es hat etwas mit Verfügungsgewalt über Schutzbefohlene zu tun, es ist oft träumerisch und suggestiv, viele Bewegungen sind zärtlich und sanft. Geräusche von Maschinen klammern die Bildern – und manchmal fragt man sich, ob hier Replikanten ein vorbestimmtes Programm durchziehen. Wenn nach fast einer Stunde endlich die Kinder zu agieren beginnen, toben wie die wilden Kerle, die Erwachsenen nachahmen und schließlich um deren liegende Körper in größeren Gruppen hocken – schützend? oder doch eher wie die Geier? –, dann ist diese Umkehrung nicht nur eine Erleichterung. Sondern man glaubt über beiden Gruppen eine Matrix walten zu sehen, deren Mustern sie nicht entkommen können.

Dass der Geschichte nicht zu entkommen ist, dass Verbrechen aus der Vergangenheit fortwirken in der Gegenwart, damit beschäftigten sich einige Künstler des Festivals wie etwa Manu Riche und Patrick Marnham (aus Belgien und England) in „Snake Dance“. Sie verbinden einen 90-minütigen Filmessay über Uranabbau im Kongo, den Tsunami in Fukushima und die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki mit einem Vortrag des Kunsthistorikers Aby Warburg über den Schlangentanz der Pueblo-Indianer. Zwar verstand man die Verbindungen in dem fortschrittskritischen Gestus, eine Spur der Vernichtung von Kulturen nachzuzeichnen. Zugleich aber war dieses Menetekel weniger ein Anstoß zum Denken als eine depressive Überdosis.

Ganz anders gingen mit dem Schrecken der Geschichte die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und Björn Schmelzer, Leiter des Vokalensembles Graindelavoix aus Antwerpen, um. Ihr Stück „Cesena“ für Sänger und Tänzer trägt den Schauplatz eines mittelalterlichen Massakers im Titel, und aus der Zeit stammen seine polyphonen Gesänge. Es wurde ursprünglich in der Morgendämmerung aufgeführt, im Hof des Papstpalastes in Avignon. Es ist in der Übertragung auf die Bühne ein großartiges Stück geblieben, das einen weit entfernten Raum aufreißt, ohne ihn narrativ zu füllen. Über lange Strecken hört man die Körper mehr, als dass man sie sieht, das Wischen der Füße im Sand, Schritte und Stimmen. Das Zwielichtige, das Umschalten der Wahrnehmung auf ungeübte Sinne, entfaltet dabei mehr als nur eine ästhetische Qualität. Man erfährt sich beim Zuschauen selbst in seinen Grenzen. Und begegnet in dieser Disposition den Bildern von Verlassenheit, von Gruppierung und Konflikt anders als gewohnt.

„Cesena“ beginnt im Dunkeln, wo nichts genau benennbar ist. Zwei Tage später kam auf die gleiche Bühne im Haus der Festspiele „Gólgata Picnic“ von Rodrigo García, einem Regisseur und Autor aus Madrid, der vom Furor der Benennung und Deutung getrieben ist. Schon am Anfang ist die Bühne mit Brötchen gefüllt, später klatschen uns große Live-Aufnahmen von kauenden Mündern aufs Auge. Wer da nicht hinschauen will, verpasst die deutsche Übertitelung der Monologe, wütende Bekenntnisse sogenannter gefallener Engel. Es sind Abrechnungen, mit dem Fortschrittsglauben, mit der Sehnsucht nach Erlösung, mit dem Konsum, ob biologisch korrekt oder nicht, und mit der Kunst, ja, vor allem, mit der und ihren Versprechungen hadert García.

Lakonie und Dogmatismus

Unaufhörlich gehen Wortkaskaden auf einen nieder. Manchmal sieht man die Gesichter der Sprechenden groß auf der Leinwand, mit Gemüse kaschiert, das, während der Schauspieler von einem Autounfall erzählt, genüsslich von seinem Kopf gepflückt wird. Manchmal aber stehen die Lakonie in der Sprechweise, die Unaufgeregtheit der Bewegungen in heftigem Gegensatz zu den sprachlichen Behauptungen. Mit diesen Dissonanzen von Sprache und Körper, Text und Bild unterläuft der Regisseur García das Dogmatische seiner eigenen Texte – daran hat der Geist zu kauen.

Wenn man nur lange genug auf seinem Hintern sitzen bleibt, dann kommen die spannenden Stücke nach Berlin, so fasste eine Festivalbesucherin „Foreign Affairs“ zusammen, und was Charmatz, García und De Keersmaeker angeht, trifft das zu. Jetzt entpuzzelt sich das Rätsel dieses Festivals in dem Blick auf die Spuren der Vernichtung, auf denen die Gegenwart aufbaut, bemerkte eine andere, auch das trifft zu. Die Stücke kommunizieren miteinander, versprach Frie Leysen. Es funktioniert, auch wenn, wie bei „Snake Dance“ und einigen anderen Produktionen, die Ausführung eher unbefriedigend blieb.