„ExtremeGewalt“

Alejandra Ancheita über mexikanische Arbeitsbedingungen

Foto: ProDesc

Alejandra Ancheita

ist Juristin und Gründerin sowie Direktorin des Menschenrechtszentrums Prodesc in Mexiko-Stadt. 2014 erhielt sie den Martin-Ennals-Preis, der von zehn internationalen Menschenrechtsorganisationen ausgelobt wird.

taz am wochenende: Frau Ancheita, Mexiko wirbt als Gastland der Hannover-Messe mit seinen ausgezeichneten Investitionsbedingungen. Was denken Sie, wenn Sie das hören?

Alejandra Ancheita: Die Regierung will damit auf internationaler Ebene als starker Partner dastehen. Doch mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. 74 Prozent der Bevölkerung leben in Armut. Zudem leiden wir unter ex­tre­mer Gewalt: Menschen verschwinden, täglich werden sieben Frauen ermordet, der Menschenhandel blüht, Kinder müssen arbeiten.

Der Siemens-Konzern erklärt, die 2013 verabschiedete Energiereform würde Investitionen besonders attraktiv machen. Welche Konsequenzen hat diese Reform für die Bevölkerung?

Besonders betroffen sind die indigenen Völker. Sie haben ein Recht darauf, gehört zu werden, bevor auf dem von ihnen bewohnten Land Energie- und andere Entwicklungsprojekte geplant werden. Häufig werden die Gemeinden jedoch weder vorab informiert noch befragt. Zum Beispiel bei Windkraftanlagen in der Landenge von Tehuantepec. Die Behörden haben dort im Interesse der Unternehmen agiert und nicht dafür gesorgt, dass Konsultationen durchgeführt werden. Wenn die Konzessionen dann vergeben sind, ist es kaum mehr möglich, die Projekte zu stoppen.

Deutsche Unternehmen investieren vor allem in der Automobilindustrie und sprechen von Erfolg.

Ja, hier gibt es eine Entwicklung. Aber die Investi­tio­nen wirken sich nicht merkbar auf die arbeitende Bevölkerung aus. Insgesamt sind nur 1,4 Prozent in der Automobilindustrie tätig.

Sind mexikanische Arbeiter sozial abgesichert und gewerkschaftlich organisiert?

Das Arbeitsrecht garantiert eine soziale Absicherung und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation. Doch es herrscht eine große Diskrepanz zwischen den Vorgaben und der Rea­li­tät. Die Gesetze werden nicht im Interesse des Gemeinwohls angewendet. So kümmert sich die Mehrheit der Gewerkschaften zum Beispiel darum, Kollektivverträge mit den Unternehmern auszuhandeln, bevor in den Werken überhaupt gearbeitet wird. Die künftigen Arbeiter wissen nichts davon. Es ist undurchsichtig.

Sie meinen die Gewerkschaft CTM, die mit BMW schon zwei Jahre vor der Werkseröffnung einen Stundenlohn zwischen 1 und 2,30 Euro vereinbart hat?

Ja, aber selbst solche Vereinbarungen betreffen nur jene, die eine formalisierte Arbeitsstelle haben. Das sind wenige. Die Gewerkschaften vertreten nur etwa 10 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung. Obwohl also fortschrittliche Gesetze existieren, sind wir weit davon entfernt, dass Arbeiterrechte garantiert sind.

Interview: Wolf-Dieter Vogel