Oper im Drehstuhl

Unerhörte Transparenz und klangliche Differenziertheit: Bernd Alois Zimmermanns monumentale Oper „Die Soldaten“ kehrt zurück nach Köln

Die Regie hält sich zurück mit Artistenklimbim Foto: Paul Leclaire

Von Regine Müller

Bernd Alois Zimmermann hatte wohl die ferne Zukunft des Musiktheaters im Sinn, als er über „Die Soldaten“ das Rätselwort von der „Kugelgestalt der Zeit“ raunte. Das Geschehen spiele zugleich „gestern, heute und morgen“, verfügte er visionär, womit er sowohl die Simultaneität der musikalischen Vorgänge als auch die oft parallel verlaufenden Handlungsstränge meinte. Und die Zeitlosigkeit des Stoffs, ein Destillat aus Jakob Michael Reinhold Lenz’ Trauerspiel, das vom Untergang der Bürgertochter Marie erzählt, die von einem Offizier fallen gelassen wird und, als Soldatenhure abgestempelt, in der Gosse endet.

In den 1960er Jahren war vieles noch utopisch, was heute Routine ist. Sowohl was die Bühnentechnik als auch was die spieltechnischen Möglichkeiten der Musiker angeht. „Die Soldaten“ galten als unspielbar, und erst nach langer Verzögerung gelangte das epochale Werk schließlich 1965 in Köln – als Auftragswerk der Stadt – zur Uraufführung und geriet zum Triumph. Aber noch lange danach galt das Aufführungsproblem dieser Oper als nahezu unlösbar. Vor zwölf Jahren fand Regisseur David Pountney in der Bochumer Jahrhunderthalle mit einem 120 Meter langen Bühnensteg und daran entlanggleitenden Zuschauertribünen eine verblüffend handfeste Lösung für die geforderte Simultaneität der Handlung.

In der Uraufführungsstadt Köln ist nun anlässlich Zimmermanns 100. Geburtstag und zur Eröffnung des Neue-Musik-Festivals „Acht Brücken“ eine noch konsequentere Annäherung an Zimmermanns Vision geglückt. Und das ausgerechnet in dem für das Format Oper problematischen Staatenhaus, das noch lange als Interimsstätte herhalten muss und so manches Repertoirewerk in seiner akustischen und szenischen Weite buchstäblich verschluckt hat.

Orthopädisch bedenklich

Über steile Stiegen entert das Publikum nun einen ovalen Theaterraum, der Bühne, Tribüne und Orchesterpodium auf überraschende Weise in eins fallen lässt. Das Geschehen spielt auf einer den ganzen Raum umlaufenden Galerie, die Spiel- und Projektionsfläche zugleich ist, während sich das Publikum auf winzigen Drehhöckerchen nach Belieben dem zuwenden kann, was von den parallel stattfinden Aktionen gerade am stärksten bannt. In der Tat sind die Sitzgelegenheiten mit ihren winzigen Rückenlehnchen orthopädisch bedenklich, gestatten aber die bezweckte Rundumsicht perfekt.

Wem das Geflirre der Projektionen und die Aktionen der effektreichen, holzschnittartig gezeichneten Regie zu viel werden, kann nach vorne schauen und sich auf die eigentlichen Turbomotoren des Abends kon­zen­trie­ren: das riesig besetzte Gürzenich-Orchester und seinen GMD François-Xavier Roth, der hier ganz zu sich kommt. Roth ist bekanntlich Spezialist für Neutöner, und nun zieht er triumphal alle Register. Allein wie er den gewaltigen Apparat mit den teilweise ausgelagerten Schlagwerkern, Bühnenmusik, Jazz-Combo, Zuspielbändern und nahezu 20 Solisten mit makelloser Präzision zusammenhält, grenzt an ein Mirakel.

Noch mehr zu bewundern sind jedoch die unerhörte Transparenz und klangliche Differenziertheit, mit denen Roth Zimmermanns Monsterpartitur durchleuchtet, begreifbar macht und zudem mit theatralischer Dringlichkeit befeuert. Endlich sind auch die vielen musikhistorischen Zitate trennscharf herauspräpariert und die disparaten Collagepuzzleteile so klar umrissen, dass sich die simultane Struktur des Werks in ihrer ganzen faszinierenden Komplexität zu erkennen gibt. Gewiss wird es bisweilen auch sehr laut, aber nie suppt der Klang zu einem Brei zusammen. Oft dimmt Roth die Dynamik zart herunter und lässt lyrische Momente aufblühen.

Die Sänger, die sich mittels Monitoren und drei Assistenzdirigenten orientieren müssen, bleiben stets akkurat in der Spur und imponieren mit einer seltenen Niveaugeschlossenheit. Allen voran und stellvertretend für alle anderen Höchstleistungen Emily Hindrichs’ gleißende Marie, gefolgt von Nikolay Borchevs anrührend-balsamischem Stolzius und Martin Kochs heiß-kaltem Desportes. Millimeterarbeit leistet für die verstärkten Sänger und optimale Klangmischverhältnisse Paul Jeukendrups Klangregie.

Regisseur Carlus Padrissa von der katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus hält sich diesmal angenehm zurück mit Artisten- und überbordendem Technikklimbim. Er findet starke Bilder, die Andreas Grüters zwingende Lichtregie bohrend zuspitzt. Padrissa fokussiert vor allem die aufbegehrenden Frauen des Werks. Die Männer sind entweder larmoyante Weicheier oder dumpfes, gewaltbereites Pack. Eine Schar Soldaten baumelt am Schluss selbst gerichtet zappelnd an Stricken. Na ja.

Dennoch, das Ganze hat einen mitreißenden Drive, auch wenn Padrissas Regie zwar Atmosphäre liefert, aber an der Oberfläche bleibt und nichts wirklich Neues erzählt. Großer Jubel im Staatenhaus. Alle Vorstellungen sind ausverkauft. Sperrige Neutöner sind kein Nischenprodukt mehr.