Zwei Leben in einem

In Peter Stamms neuem Roman trifft ein Mann sein jüngeres Ich – und sucht die Frau auf, die er damals schon liebte

Peter Stamm:„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“, Fischer, Frankfurt am Main 2018, 160 Seiten, 20 Euro

Von Annabelle Seubert

Ein Mann rennt zur Bäckerei, Sprühregen im Gesicht, er ist so glücklich wie er es noch nie war: Zu Hause wartet die Frau, die ihm den vielleicht besten Grund zu leben gibt. Sie sind zusammen durch die Berge gewandert. Sie haben zusammen auf den Betten eines Möbelgeschäfts gelegen. Sie haben die Küche neu gestrichen, „wie betrunken von den Dämpfen der Farben“ und voneinander.

Und dann denkt er übers Abhauen nach. Im Regen „wegzulaufen“, einfach so. Es ist nur ein Gedanke, der wieder verfliegt, nur ein Halbsatz in jenem neuen Roman von Peter Stamm – eine Bedrohung von vielen. Karg umrissen und in die Stamm-typische, leise Melancholie gehüllt, die süchtig machen kann und auf die mächtigen Fragen warten lässt, die er in seinen Büchern stellt: Wie hält man das Glück eigentlich aus, wenn es kommt? Wie den Anfang einer Liebe, wenn man bereits ihr Ende ahnt?

Und wenn man in der Mitte seines Lebens noch mal ein paar Dinge geraderücken könnte: welche wären das?

„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ heißt Stamms Buch – wie eine Antwort auf „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Und um das Sein natürlich geht es, darum, mit wem man es gern geteilt hätte. Rückkehr und Reue eingeschlossen, einem „Ich liebe dich immer noch“, zu spät geflüstert: Christoph ist um die fünfzig, als er die viel jüngere Lena wiedertrifft. Sie ist die Frau, für die er damals durch den Regen gerannt ist und die er längst verloren hat. Jetzt lauert er ihr in Stockholm auf, hinterlässt ihr eine Nachricht, sie laufen über einen Friedhof und durch verschneite Straßen, während er ihr seine Geschichte erzählt. Oder eigentlich: ihre gemeinsame, die sie noch nicht vollständig kennt.

Christoph erzählt ihr von dem Buch, das er vor Jahren geschrieben hat. Wie er anschließend auf Lesereise einem Nachtportier begegnet ist und – „es kam mir vor, als schaute ich in einen Spiegel“ – sich in ihm erkannt haben will. Dasselbe Gesicht. Dieselbe Art, die Beine übereinanderzuschlagen. „Chris“, das ist er, als er jung war. Hartnäckig bis missmutig daran arbeitend, Schriftsteller zu werden.

Welches Gefühl ist echt?

Christoph kennt Chris’ Fehler, sein Leben und dessen Verlauf. Er kennt den Roman, den Chris bald schreiben wird, und genauso die Frau, von der der Roman handeln wird: „Magdalena“, eine Schauspielerin, sie und Chris werden durch die Berge wandern. Sie werden durch ein Möbelgeschäft gehen und die Küche neu streichen, „ein Bild von einem Paar“. Der talentierte Schriftsteller und die talentierte Schauspielerin.

Lena und Christoph, Magdalena und Chris, früher und jetzt: Stamms Roman ist ein Verwirrspiel der Zeiten, ein Labyrinth mit mehreren Ein- und Ausgängen – und darin die richtigen zu finden ist schwer. Wer treibt wen vor sich her? Welches Gefühl ist echt? Wie glaubwürdig ist es, dass eine Frau einem vertraut wirkenden, aber fremden Mann durch die Stadt folgt, „als hätte sie nie etwas anderes getan“?

Dazu all die Spuren, die Stamm zu einer anderen Geschichte legt. Zu „Agnes“, seinem berührenden Debüt von 1998, in dem ein desillusionierter Schriftsteller eine jüngere Frau liebt. Und schließlich die Parallelen zu ihm, Peter Stamm, dem Schriftsteller Mitte fünfzig, der seine Romanfigur nun in der Werbebranche arbeiten und ihre ersten literarischen Versuche am Granittisch eines Hotels tippen lässt – genau wie er das einst getan hat.

Das ergibt ziemlich viel Stoff; einen Plot, der sich zunehmend konstruiert liest, und auf 160 Seiten leider nicht ganz klar. Man verwirrt sich oft in jenem Labyrinth, blättert wieder und weiter zurück. Auch wenn Stamm so kunstvoll über die kleinen Momente schreibt, die eine Menge verändern, wie er es immer tut. Und dabei so schön von den Unabänderlichkeiten der Welt erzählt, als berichte er vom Wetter:

„Und was geschieht, wenn ich meine Schönheit verliere?“

„Mit jugendlichem Pathos hatte ich geglaubt, mich zwischen ihr und dem Schreiben entscheiden zu müssen, zwischen Liebe und Freiheit. Jetzt erst begriff ich, dass das eine nicht ohne das andere möglich war.“