Debatte Sexualisierte Gewalt in Indien: Der Körper als Schlachtfeld

Die vielen Vergewaltigungen in Indien werden so schnell nicht aufhören. Sie sind Ausdruck eines massiven gesellschaftlichen Umbruchs.

InderInnen protestieren gegen Vergewaltigung mit bunten Transparenten auf denen steht "Wir protestieren - wir verlangen Rechenschaft" und "Genug, wir tolerieren keine gewalttätigen Männer"

Frauen, Mädchen und ein paar Männer protestieren gegen die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen Foto: dpa

Indien, das „Land der Gegensätze“ ist ein altes, aber hartnäckiges Klischee. Derzeit werfen Nachrichten über zahlreiche brutale Vergewaltigungen und Morde an jungen Frauen und Kindern in Indien die Frage auf: Was ist los in diesem Land, das über eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften und eine der größten IT-Industrien der Welt verfügt? Das schon eine Premierministerin hatte, als Angela Merkel noch ein Schulkind war, und in dem Shakti, die weibliche Form des Göttlichen, ebenso verehrt wird wie der männliche Gott Shiva?

Seit im April ein 8-jähriges Mädchen aus dem Krisenstaat Jammu und Kaschmir entführt und von mehreren Männern tagelang in einem Tempel vergewaltigt und ermordet wurde, reißen die Nachrichten über Vergewaltigungen in Indien nicht mehr ab. Eine 17-Jährige wirft einem Mitglied des Landesparlaments und der regierenden Bharatiya Janata Partei (BJP) im Bundesstaat Uttar Pradesh vor, sie vergewaltigt zu haben. Als die Polizei untätig bleibt, versuchen sie und ihr Vater, sich vor der Residenz des Ministerpräsidenten anzuzünden. Ihr Vater starb kurz danach. Die Untersuchung legt nahe, dass er in Polizeigewahrsam geschlagen wurde.

Am vergangenen Freitag wurde im Bundesstaat Jharkhand eine junge Frau (17) vergewaltigt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Eine Woche zuvor war ein 16-jähriges Mädchen im demselben Bundesstaat vergewaltigt worden. Die Täter wurden von der lokalen Dorfverwaltung zu 100 Rumpfbeugen („Sit-ups“) und umgerechnet 620 Euro Strafe verurteilt und zündeten aus Rache das Haus des Opfers an. Das Mädchen starb an ihren Verbrennungen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Nach Massenprotesten in der Hauptstadt Delhi sah sich Premierminister Narendra Modi gezwungen, das Wort zu ergreifen. Er versprach „Gerechtigkeit für die Töchter Indiens“. Doch das ist leicht gesagt. Zwar mag die Einführung der Todesstrafe für Vergewaltiger von Kindern und eine schnellere Bearbeitung solcher Fälle durch die überlastete indische Justiz dem Ruf nach Gerechtigkeit genügen.

Schlachtfeld der Modernisierung

Doch am Grundproblem wird es wenig ändern: Der weibliche Körper ist in Indien zum Schlachtfeld der Modernisierung geworden. Vergewaltigungen werden in den kommenden Jahren wohl eher noch zunehmen. Und das liegt nicht nur daran, dass die Öffentlichkeit stärker sensibilisiert ist und Frauen sich eher trauen, zur Polizei zu gehen.

Patriarchale Wertvorstellungen und moderne Medizin haben dazu beigetragen, dass Indien zu den Ländern mit dem größten Männerüberschuss weltweit gehört. Nach Angaben der offiziellen Statistik fehlen in Indien rund 63 Millionen Frauen. Obwohl es seit 2013 verboten ist, per Ultraschall das Geschlecht eines Embryos zu bestimmen, werden heute sogar mehr Mädchen abgetrieben als früher – nicht zuletzt, weil die Familien auch in Indien kleiner werden. Es gibt genügend Ärzte, die gegen Honorar sicherstellen, dass ein Stammhalter geboren wird.

Seit 2013 ist es verboten, das Geschlecht eines Embryos zu bestimmen – doch noch immer werden Mädchen abgetrieben

Auf 1.000 Jungen kommen heute in Indien nur noch 918 Mädchen. In Indien ist die Hälfte der Bevölkerung, also mehr als 600 Millionen Menschen, jünger als 25 Jahre. Sehr viele junge Männer haben also schlechte Aussichten auf eine Heirat und noch schlechtere auf außereheliche Sexualbeziehungen, die nach wie vor tabuisiert sind.

Zugleich hat die ökonomische Entwicklung vor allem in den Städten auch jungen Frauen ein bisher nicht gekanntes Maß an Freiheit eröffnet. Als Mitarbeiterinnen in IT-Firmen oder Callcentern lassen sie oft die Enge des Elternhauses hinter sich, teilen sich Zimmer mit Kolleginnen, tragen Jeans, gehen abends auf ein Bier in die Kneipe. Vor 20 Jahren war das undenkbar und gilt bis heute in weiten Teilen der Bevölkerung als unschicklich.

Vergewaltigungen in der Familie

Als Rollenmodell gilt noch immer Sita, die Heldin aus dem Nationalepos „Ramayana“: In Abwesenheit ihres Mannes Rama zieht dessen Bruder Lakshmana eine Linie (Sanskrit: rekha) um das gemeinsame Haus und empfiehlt Sita, diese nicht zu überschreiten, sonst drohe Gefahr. Als Sita eines Tages die Linie unwissentlich doch übertritt, wird sie prompt von dem Dämonenkönig Ravana entführt. Bis heute wird der Ausdruck „Überschreiten der Lakshmana rekha“ verwendet, um Frauen zu kritisieren, die sich zu viele Freiheiten nehmen und deshalb selbst Schuld seien, wenn ihnen ein Unglück zustößt.

So auch 2012, als eine Massenvergewaltigung, die als Nirbaya-Fall bekannt wurde, Delhi erschütterte. Der Mord an einer 23-jährigen Physiotherapeutin, die von einer Bande von Männern in einem Bus brutal vergewaltigt wurde, löste Massenproteste aus. Dass Frauen, die sich gegen überkommene Rollenvorstellungen hinwegsetzen, als Freiwild betrachtet werden, ist ein weltweit bekanntes Phänomen. Da die meisten Vergewaltigungen in der Familie stattfinden, dürften auch die Nachrichten aus Indien nur die Spitze des Eisbergs zeigen.

Ein weiteres Problem ist das dysfunktionale Justizsystem Indiens. Die Gerichte sind chronisch überlastet. Nach Recherchen der Kinderstiftung Bachpan Bachao Andolan warten an indischen Gerichten rund 110.000 Verfahren wegen Kindesmissbrauchs auf Bearbeitung. Es würde mindestens 20 Jahre dauern, diese beim jetzigen Tempo der Justiz zu bearbeiten, selbst wenn keine neuen Fälle hinzu kämen.

Viele Familien akzeptieren ein Schweigegeld

Unterbezahlte, korrupte Polizisten sind leicht davon zu überzeugen, Ermittlungen einzustellen. Nicht selten akzeptieren auch Familien ein Schweigegeld, weil die Vergewaltigung der Tochter als Schande betrachtet wird.

Weil gesellschaftliche Werte und Normen sich nur langsam ändern, ist die einzige Lösung eine konsequente Anwendung bestehender Gesetze und die dazu notwendige bessere Ausstattung von Polizei und Justiz. Einige Reformen wurden nach dem Nirbaya-Fall 2012 eingeleitet, aber wie sich jetzt zeigt, reichen diese bei Weitem nicht aus.

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Britta Petersen ist Senior Fellow bei der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation (ORF) in Neu-Delhi und Mitglied im Korrespondenten-Netzwerk "weltreporter.net". Bis 2014 war sie Bueroleiterin der Heinrich Boell Stiftung in Pakistan, zuvor Redakteurin und Korrespondentin der Financial Times Deutschland (FTD) in Berlin, Kabul und Neu-Delhi (bis 2010). Fuer ihre Arbeit mit jungen afghanischen Journalisten erhielt sie 2005 den Leipziger "Preis fuer die Freiheit und Zukunft der Medien" und 2009 den "Gisela Bonn Preis" für Beiträge zur deutsch-indischen Verständigung.

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