Buch über Frank Schirrmacher: Inspektor sucht Normalität

Kann man im Rückblick mal etwas uneindeutiger auf den „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher schauen? Genau dazu lädt Michael Angele ein.

Ein Mann, Frank Schirrmacher

Interna­tional ein gefragter Gesprächspartner: Frank Schirrmacher (Archivbild aus dem Jahr 2014) Foto: dpa

Manche Blattmacher werden im eigenen Land zu wichtigen Stichwortgebern, doch nur die wenigsten machen auch im Ausland von sich reden. Frank Schirrmacher war einer von ihnen. Wenn es heute noch so etwas wie „intellektuelle Macht in Deutschland“ gibt, schrieb Le Monde 1996 ehrfürchtig, dann ist Frank Schirrmacher einer ihrer wichtigsten Repräsentanten.

Mit 23 der erste Artikel in der FAZ, mit 29 Literaturchef und mit 34 Herausgeber der maßgeblichen „konservativen“ Stimme in Deutschland. Wofür steht der Feuilletonchef? Gegenüber den französischen Journalisten nannte Schirrmacher zwei Eckpfeiler seiner Haltung: eine resolute Ablehnung von 68 und den Wunsch nach nationaler Normalität. „Wir Deutsche“, so gab er zu Protokoll, „träumen davon“, so zu werden wie „die Franzosen oder Engländer“.

In die Finger kam mir die FAZ das erste Mal in den späten neunziger Jahren. „Zeitung in der Schule“ hieß das Projekt, das dafür sorgte, dass jeden Morgen ein gewaltiges Bündel – mehrere Dutzend Exemplare der FAZ – geliefert wurde. Viele Ausgaben flatterten ungelesen über das Schulgelände, andere lagen im Rektorat aus, ein angemessen gravitätisches Dekor, um sich die „Zeitung für Deutschland“ zu Gemüte zu führen.

Ein Freund machte es sich zur beinahe täglichen Aufgabe, die FAZ von der ersten bis zur ­letzten Seite zu lesen. An mitreden war, für mich zumindest, nicht zu denken, geistig mitkommen war alles und, gerade was das Feuilleton anging, schwer genug. Vielleicht lag es am Alter, vielleicht an diesen „19. Jahrhundert-‚Über-uns-liegt-ein-Hauch-von-Spät­antike-wir-sind-das-Land-der-Phäaken‘-Sätzen“ (Rembert Hü­ser), die doch zu unserem altsprachlichen Internat passten wie der Arsch auf den Eimer.

Viel Drama und noch mehr Kinkerlitzchen

Wir hatten damals keinen Schimmer von den Scherereien und Schlammschlachten hinter den Kulissen, die Michael Angele ins Zentrum seines Buchs über Frank Schirrmacher rückt. Es ist eher ein Sozio- als ein Psychogramm: Über verborgene Motivationen wird zwar gelegentlich spekuliert, aber im Wesentlichen geht es um Verhaltensweisen und Interaktionen im Mi­kro­kos­mos Journalis­mus.

Es erwarten einen viel Drama und noch mehr Kinkerlitzchen aus der Boyzone. Doch Schirrmachers Führungsstil war eben tatsächlich mitverantwortlich für die großen Migrationsbewegungen des deutschen Männerfeuilletons: Den Redakteuren, die gehen wollten oder mussten, stand ein Vielzahl von Autoren gegenüber, die er zur FAZ holte.

Als Thilo Sarrazins Thesen 2010 Furore machten, fuhrFrank Schirrmacher zweigleisig

Bedauerlicherweise verfehlen manche Spannungsbögen in Angeles Porträt ihre Wirkung, weil das Textgerüst an gewissen Stellen eher notdürftig zusammengeschraubt ist. Das tut dem Interesse am Buch allerdings keinen Abbruch. Viele der geschilderten Begebenheiten – die Einschüchterungsversuche oder das Ausbooten unliebsamer Kollegen, die aus dem Textverkehr gezogen werden, ebenso wie die Begeisterungsfähigkeit und die Anteilnahme, die sich ihres eigenen taktischen Kalküls nicht schämen – sprechen ohnehin für sich.

Diese Welt ist faszinierend, aber sie ist zu klein, denke ich beim Lesen immer wieder, und seither wohl noch kleiner geworden: Jede Veränderung kommt als Reigen daher, es werden vor allem Plätze getauscht. Das begünstigt Abhängigkeitsverhältnisse und üble Nachrede. Die bedrückendsten Passagen des Buches lassen die Abgründe des Angestelltendaseins in den Printmedien mehr als erahnen – dann vielleicht doch lieber prekär ausschlafen.

Von der Warte des Allgemeinen aus sprechend

Schirrmacher war interna­tional ein gefragter Gesprächspartner und lieferte Korrespondenten zuverlässig O-Töne, die immer schon vom süßen Dasein als Überschrift träumten. Die Themen hatte er ja oft genug publizistisch begleitet und nicht selten sogar selbst lanciert. Und zwar nicht auf irgendeine Weise: Die Einverleibung einer Problematik war für Schirrmacher stets auch eine Entleibung, von der er aufgekratzt Zeugnis ablegt. Nicht „ich“ sagend, sondern von der Warte des Allgemeinen aus sprechend.

Was im Rückblick frappiert, ist, wie aktiv Schirrmacher, dem, wie Urs Widmer 1988 im Merkur lakonisch bemerkte, „die Gnade der späten Geburt sogar die Schreckensjahre von 1968 erspart hat“, Geschichtspolitik betrieben hat. Schirrmacher wollte die deutsche Vergangenheit des 20. Jahrhunderts filmreif schreiben. Alles, was in Kino und Fernsehen Uniform trug, wurde inspiziert. Als Fetisch sicher bedenkenswert, als Kriterium der Vergangenheitsbewältigung ziemlich lächerlich. Wie viel Zeit und Platz für filmische Nazi- und Widerstandsmemorabilia bei der FAZ aufgewendet wurde!

Bereits im Oktober 1987 schwadronierte Schirrmacher von einem „Epos aus der Nazi-Zeit“, auf das er vergeblich warte. Als 1993 Helmut Kohl und François Mitterrand am Jahrestag des Hitler-Attentats vom 20. Juli bei Ernst Jünger – der Frankreich in mehr als einer Hinsicht für sich einzunehmen wusste – vorbeischauten, entwickelte Schirrmacher dafür nachträglich ein geradezu hymnisches Skript. Die Idee des auf die Leinwand gebannten Offizierswiderstands ließ ihn, immer auf der Suche nach „historischer Verdichtung“, nicht mehr los.

Tom Cruise verdient eine Chance

Die Stationen, die sie durchläuft, fügen sich zu einem eigenwilligen Fünfakter. Zunächst die Begegnung mit Jo Baiers Fernsehfilm „Stauffenberg“(2004). Vor dem Fernseher sitzend (oder irre ich mich?), schreitet Schirrmacher das Set ab und begutachtet die Kulissen: Zu seiner Zufriedenheit stellt er fest, dass „Hitlers Lagebaracke und überhaupt das im ostpreußischen Sumpfgebiet liegende Führerhauptquartier bis hin zu den Mücken sehr genau rekonstruiert“ sind. Aber doch fehlt hier etwas, moniert Schirrmacher, die symbolische Dimension bleibt im Film unterentwickelt. Unverzeihlich: Dieser Stauffenberg zitiert nur einmal Stefan George, dessen Gedichte auch Schirrmacher ziemlich verstrahlt haben.

Als 2007 durchsickert, dass Tom Cruise in einer US-Produktion den gescheiterten Tyrannenmörder spielen wird, erlebt Schirrmacher im zweiten Teil des Stücks ein Wechselbad der Gefühle. Cruise, der Scientologe, ist einer dubiosen Sekte verfallen. Der Schock weicht bald der Einsicht: Auch der George-Kreis stünde heute als Sekte unter Beobachtung, und deshalb verdient Cruise eine Chance. Dritter Teil: Schirrmacher findet sich am Drehort ein. Die Wahl des Hauptdarstellers entpuppt sich als Glücksgriff. So ähnlich sieht Cruise Stauffenberg, dass den Journalisten „eine Ahnung von der möglichen Wirkung“ dieses Films streift. Dazu wird ihm „eine wirklich unfassbare und unvergessliche Torte serviert“.

Der vierte Akt: „Operation Walküre“ ist in den Kinos angelaufen, das Phänomen hat sich zu einem „globalisierten 20. Juli“ ausgewachsen. Auch die Sprache beginnt sich zu verändern, Schirrmacher notiert: „ ‚Hitlercide‘, frei übersetzt ‚Hitlermord‘, ist eine der neuesten amerikanischen Vokabeln“, ein deutlicher Beleg dafür, „dass der 20. Juli 1944 in der Populärkultur angekommen ist“. Es ist freilich ein Mord, der nie stattgefunden hat, aber „Debatten über Einzelfragen historischer Authentizität“ erscheinen da längst „unangemessen“.

Was trieb Schirrmacher an?

Fünfter Akt und Schluss: „Der Burda-Verlag hat beschlossen, Tom Cruise den ‚Bambi Courage‘ zu verleihen. Den Bambi für Mut. Auch das ist eine mutige Entscheidung, ich finde, sie ist richtig, ja zwingend.“

Es kam durchaus vor, dass Schirrmachers unbändiger Drang, Themen aufzubauschen und sie über Wochen im Gespräch zu halten, einen Mehrwert erzeugte und einen Debattenstand markierte, hinter den es kein Zurück mehr gab. Als Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ 2010 Furore machte, fuhr Schirrmacher zweigleisig. Einerseits kontextualisierte er die Thesen des Autors und konnte gerade dadurch all die blinden Flecken, das bewusste Ausblenden, die politischen Vorannahmen, das stillschweigende Anknüpfen an fragwürdige Mutmaßungen zum Verhältnis zwischen Erbgut und Intelligenz aufdecken. Andererseits ging er mit jenen politischen Verantwortlichen ins Gericht, die es für einen Ausweis politischer Rechtschaffenheit hielten, das Buch über den Vorabdruck hinaus gar nicht erst gelesen zu haben.

Michael Angele: „Schirrmacher. Ein Portrait“. Aufbau, Berlin 2018, 222 Seiten, 20 Euro

Sarrazins Posi­tio­nen wurden in der FAZ konsequent auseinandergenommen, ohne den ehemaligen Bundesbanker zu dämonisieren – kein ganz einfaches Unterfangen, aber eines, das der Selbstviktimisierung, die seit einigen Jahren nicht zuletzt im konservativen Spektrum grassiert, enge Grenzen zieht.

Dass nach der Lektüre von Angeles Buch nicht weniger, sondern mehr Unklarheit darüber herrscht, wer Schirrmacher war und was ihn eigentlich antrieb, ist nicht das geringste Verdienst dieses Porträts einer öffentlichen Person, die zu Lebzeiten selbst einiges dazu beitrug, dass man sich ein täuschend deutliches, vorschnell erstarrtes Bild von ihr machte.

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