Aufarbeitung des NSU-Komplexes: Es hört nicht auf

Das Urteil ist verkündet: Beate Zschäpe hat „lebenslang“ bekommen. Migrant*innen in Deutschland werden sich aber nicht sicher fühlen.

Urteil NSU-Prozess: Eine Frau mit Tränen in den Augen

Rassistisch motivierte Morde geraten allzu schnell in Vergessenheit Foto: unsplash/Luis Galvez

Am vergangenen Wochenende fanden in Klagenfurt die Tage der deutschsprachigen Literatur statt. Eine der Teilnehmerinnen war Özlem Özgül Dündar, geboren 1983 in Solingen. Der Titel des literarischen Textes, mit dem sie zum Wettbewerb um den Bachmannpreis antrat, lautete: „Und ich brenne“. Darin berichten vier Mütter von einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus.

Eines der Jurymitglieder sagte in der an die Lesung anschließenden Diskussion: „Es hat diesen Brand offensichtlich gegeben, mit einem eventuellen rechtsradikalen Hintergrund. (..) Im Begleitschreiben zu diesem Text stand, dass es sich um einen tatsächlichen Vorfall handelt, wenn ich mich richtig erinnere, aus dem Ruhrgebiet, ich bin nicht mehr ganz sicher.“

Ich saß vor dem Fernseher, fassungslos. Und verletzt. Dabei bin ich die letzte Person, die Menschen aufgrund ihrer Wissenslücken verurteilt. Ich selbst habe viel mehr Lücken, was Allgemeinwissen oder die Kenntnis über deutsche Historie angeht, als eine Journalistin sich erlauben sollte. Ich weiß darum, es ist mir unangenehm. Und doch konnte ich einfach kein Verständnis für diese Aussage in Klagenfurt aufbringen.

Warum nur? Vielleicht, weil der Brandanschlag von Solingen 1993, obwohl ich damals erst sechs Jahre alt war, in meiner Wahrnehmung ein so zentrales historisches Ereignis ist, dass ich immer annahm, alle wüssten davon.

Weil der Anschlag nur ein Tiefpunkt einer längeren Welle rassistischer Anschläge war und fünf Menschen bei dem Brand in ihrem eigenen Zuhause ums Leben kamen, dachte ich, alle Deutschen kennen Solingen. Wissen, dass Solingen nicht im Ruhrgebiet liegt. Aber so ist es anscheinend nicht. Solingen ist im kollektiven Gedächtnis längst vergessen.

An der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung ist zu zweifeln

Seit der Urteilsverkündung am Mittwochmorgen in München frage ich mich: Wird dasselbe mit den NSU-Morden passieren? Natürlich nicht, werden mich nun viele beruhigen wollen. Allein die Tatsache, dass die drei Rechtsterroristen zehn Jahre lang im Untergrund leben konnten, gezielt Menschen mit Migrationshintergrund auswählten, ihnen auflauerten und sie ermordeten, dabei nie auch nur in Verdacht gerieten, ist so eine große Tragödie für den deutschen Staat und die Sicherheitsbehörden, dass dies niemand vergessen wird.

So wird der fünf Jahre lange Prozess gegen die einzige Überlebende des Tätertrios, Beate Zschäpe, und einige Mitglieder ihres Helfernetzwerks wohl als wichtigster Strafprozess der Nachkriegszeit gegen Rechtsterrorismus in die Geschichte eingehen.

Ja, die Dimension der NSU-Morde ist eine andere, als die des Anschlags in Solingen vor 25 Jahren. Doch ein entscheidendes Merkmal verbindet die beiden Fälle: ihr Motiv. Und allein das ist Grund genug, an der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung dieses Falls zu zweifeln.

Die Menschen, die allesamt vom NSU durch Kopfschüsse mit ein und derselben Waffe in den Jahren 2000 bis 2006 hingerichtet wurden, hießen Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat. (Michèle Kiesewetter wurde 2007 mit einer anderen Waffe getötet.)

Rassismuskritik ist eine Überlebensstrategie

Die meisten Deutschen werden sich diese Namen nicht merken, geschweige denn sie aussprechen können. Die Namen sind fremd. Sie können sich nicht mit den Opfern identifizieren. Das ist weder abwertend noch hetzerisch gemeint. Es ist nur eine Feststellung. Ich kann mich mit den Opfern identifizieren. Ich habe Angst. Ich denke: Das hätte mein Vater sein können.

Ich würde behaupten, diese Angst kennen viele. Sie schwingt in jeder Kritik der Debatten über das N-Wort mit. Sie wohnt in den Warnungen vor der unbedarften Übernahme von AfD-Positionen und der Normalisierung von rechten Kampfbegriffen.

Das hätte mein Vater sein können

Rassismuskritik wird neuerdings oft als blöde Sprachverbotsforderung belächelt. Das ist sie nicht. Rassismuskritik ist eine Überlebensstrategie. Sie soll dabei helfen, eine Gesellschaft zu gestalten, in der Solingen und der NSU nicht vergessen, oder am besten nie passieren werden. Eine Gesellschaft, in der ein ermordeter Halit genauso viel wert ist wie ein ermordeter Heinz.

Nun, da Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt wurde: Fühlen meine Familie, meine Freund*innen und ich uns sicherer? Nein. Lindert es den Schmerz der Angehörigen, dass Zschäpes Taktik vor Gericht, die naive unwissende Mitläuferin zu geben, nicht aufgegangen ist? Ich bezweifle es.

Ein Staat, der systematisch benachteiligt

Vielleicht hört der Schmerz nie auf. Nicht nur, weil die Strafen für die Mitangeklagten, die den NSU beim Morden maßgeblich unterstützten, erschreckend milde ausgefallen sind. Vor allem die Verstrickungen staatlicher Behörden wie der Verfassungsschutz in die Mordserie sind komplett offengeblieben.

Obwohl diverse V-Personen sich vor und nach dem Abtauchen des Terrortrios in dessen unmittelbarem Umfeld befanden. Obwohl Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme, der in seinem Heimatdorf „Klein Adolf“ genannt wird, am Tag des Mordes an Halit Yozgat sich in dessen Internetcafé in Kassel aufhielt.

Der hessische Verfassungsschutz fertigte einen Bericht an mit wichtigen Informationen, über 30 Belegen zu Kontakten des NSU zur lokalen Neonaziszene – und ordnete seine Geheimhaltung für 120 Jahre an. Bis 2134 bleibt diese Akte verschlossen! Ist es nicht erschütternd, wie vehement die Aufklärung des staatlichen Versagens in diesem Fall abgewehrt wird?

Institutioneller Rassismus ist ein schweres Wort, es klingt so abstrakt und hochgestochen. Aber es beschreibt sehr präzise die Lebensrealität von vielen Menschen in diesem Land: Wir leben in einem Staat, der uns systematisch benachteiligt, verdächtigt und uns nicht denselben Schutz bietet, wie weißen Mitbürger*innen mit deutschem Namen.

Ein gebrochenes Versprechen

Ich habe oben die Namen der Opfer aufgezählt. Acht von ihnen sind türkisch, einer ist griechisch. Wie kann es sein, dass bei solch einer Namensliste die Behörden all die Jahre nicht auf die Idee kamen, im rechten Milieu zu ermitteln? Wieso gingen die Ermittlungen streng in Richtung des eigenen Umfelds und ins Drogenmilieu?

Rassismus ist ein Problem, das sich immerzu reproduziert, indem es unsichtbar gemacht wird. Angela Merkel hat es sehr schön gesagt, bei ihrer Gedenkrede für die NSU-Opfer im Februar 2014: „Gleichgültigkeit – sie hat eine schleichende, aber verheerende Wirkung. Sie treibt Risse mitten durch unsere Gesellschaft. Gleichgültigkeit hinterlässt auch die Opfer ohne Namen, ohne Gesicht, ohne Geschichte.“ In derselben Rede versprach die Kanzlerin auch, die Morde und die Hintermänner und die Helfershelfer aufzudecken. Dieses Versprechen wurde gebrochen.

Wir leben in einem Staat, der uns systematisch benachteiligt, verdächtigt und uns nicht denselben Schutz bietet, wie weißen Mitbürger*innen mit deutschem Namen

Vielleicht kann aber doch verhindert werden, dass die Opfer ohne Namen und ohne Gesicht bleiben. Dass der NSU-Komplex mit diesen Gerichtsurteilen als abgeschlossen und aufgearbeitet gilt. Denn er ist nicht aufgearbeitet. Darauf beharren viele engagierte Menschen, die am Mittwoch in mehreren deutschen Städten unter dem Slogan „Kein Schlussstrich“ demonstrierten.

Ihre Forderung: Das gesamte Netzwerk und die Strukturen um den NSU müssen aufgedeckt werden. Denn nur so kann eine ernstzunehmende Aufarbeitung erfolgen. Und die Namen Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat sich im kollektiven Gedächtnis verankert. Denn dort gehören sie hin.

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes wurde Andreas Temme als V-Mann bezeichnet. Das stimmt nicht, er ist Mitarbeiter des Verfassungsschutzes.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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