„Das ist die Dummheit dieser Forschung“

Die moderne Hirnforschung überwindet mit dem freien Willen auch die Erbsünde und installiert sich als neue Religion

taz: Frau Treusch-Dieter, in welcher kulturgeschichtlichen Tradition stehen die Ergebnisse der Hirnforschung?

Gerburg Treusch-Dieter: Die Diskussion um den „freien Willen“ ist auf die abendländische Tradition der christlichen Religion zu beziehen. Die Konstruktion des freien Willens wird im Alten Testament zugleich mit dem Sündenfall beziehungsweise der Erbsünde eingeführt. Mit der Vertreibung aus dem Garten Eden wird ein grundlegender Widerspruch etabliert: Weil der Mensch sich selbst zeugt, geschlechtlich zeugt, gilt er als sündig und unfrei. Aber da er auch von Gott geschaffen wird, ist er frei, seine Abhängigkeit mittels der Religion zu transzendieren und sich aus Determinierungen zu lösen. Diese Freiheit ist aber gleichzeitig wiederum ein Unterworfensein gegenüber dem Schöpfer – dieses Paradox ist nicht aufzulösen. Diese komplizierte Dialektik, die sehr vielgesichtig ist, wird von der Hirnforschung aber mit einem Handstreich aufgelöst.

Schließt die Hirnforschung damit an die Aufklärung an?

Die aufklärerische Religionskritik hat sich grundlegend gegen diese Dialektik der Erbsünde gewehrt. Ein halb freier, halb unfreier Wille, was soll das? Entweder er vermag alles: die idealistische Position; oder umgekehrt: Durch die materialistische Aufklärung wird der Determinismus der Natur eingeführt. Damit steht die Hirnforschung in der Tradition einer modernen Naturwissenschaft, die sich als Gegenschöpferin einführt. Mit der Aufklärung macht sich der Mensch zu seinem eigenen Schöpfer und beansprucht das göttliche Gehirn, das ihn innerhalb der Dialektik der Erbsünde geschaffen hat, für sich selbst. Er möchte das Gehirn anstelle des göttlichen Gehirns übernehmen.

Beerbt die moderne Wissenschaft damit die Religion?

In der Hirnforschung erleben wir groteskerweise die Wiederkehr einer priesterlichen Position: Wir wissen jetzt, wie das Gehirn funktioniert, und das sagen wir euch so, als ob wir nicht die Sprache des Priesters sprechen, also nicht eine Wiederauflage der Religion machen. Das ist doch das Entscheidende, die Hirnforschung beruft sich explizit auf die Aufklärung, behauptet, sie fortzuführen und bezichtigt alle, die an dieser Forschung Zweifel anmelden, der Gegen-Aufklärung und des Rückfalls in dumpfe Religion. Diese Vorgabe ist in sich doppelt verdreht, denn sie verrät ja beides, die Dialektik der Religion und die Aufklärung, die ihre Kritik an der Religion hatte. Nach diesem doppelten Verrat nehmen sie auf die primitivste und simplifizierteste Weise eine Priester-Forscher-Arzt-Position ein. Sie behaupten, alle Fragen, die der Mensch an sich selbst hat, die er als Tragödie oder Komödie abwickelt, im Rahmen von Philosophien entwickelt oder in Literatur, Bildern, Kunst, insbesondere aber in der Erziehung bearbeitet, seien nun mit einem Schlag radikal vom Tisch zu ziehen. Das ist doch unglaublich!

Gibt es einen „blinden Fleck“ der Hirnforschung?

Die Hirnforschung kann das Gehirn nur mit dem Gehirn untersuchen. Und damit sind wir beim Kant’schen Paradox, dass der Verstand nur das erkennt, was er von vornherein schon in die Erkenntnis hineinlegt. Gerade bei der Hirnforschung ist das eklatant. Das Erforschte selbst bleibt dabei „ein Ding an sich“. Es muss ihr fremd bleiben, es ist ihr gar nicht zugänglich. Und da ist von vornherein die Grenze gegeben, die aber verleugnet wird. Die Hirnforschung wagt sich in einen Bereich hinein, dem die Genese der Erkenntnis zugesprochen wird, verzichtet dabei aber grundlegend auf Erkenntnistheorie. Das ist die Dummheit dieser Forschung.

INTERVIEW: FABIAN KRÖGER