Menschenrechtsverletzungen in China: Grabesstille über Xinjiang

Früher war die Region für ihre Messer berühmt. Die sind jetzt verboten. China hat die Heimat der Uiguren in ein großes Straflager verwandelt.

Sicherheitspersonal vor der großen Moschee von Kashgar

Die Staatsmacht ist allgegenwärtig: Sicherheitspersonal vor der großen Moschee von Kashgar Foto: ap

XINJIANG taz | Wo noch im vorigen Jahr die Händler ihre Waren ausgerufen haben, wo Damen mit Kopftuch wählerisch von Stand zu Stand gezogen sind, um sich Seidenschals oder Mäntel aus Yakwolle auszusuchen, und wo die Wirte von Garküchen ihre Lammspieße auf dem offenen Grill gebraten haben, herrscht heute Grabesstille.

Stattdessen patrouillieren rund um die Uhr Gruppen von Uniformierten durch die Altstadt von Kashgar. „Sicherheitstruppe“ steht auf den Armbinden der zumeist jungen Männer; ihre Abzeichen weisen sie als Mitglieder der Volkspolizei aus. Ihre Bewaffnung wäre einem Krieg angemessen: Sie tragen Sturmgewehre und Maschinenpistolen, dazu kommen Schlagstöcke und Schilde. Fast alle von ihnen sind ethnische Chinesen, nur wenige sehen aus wie Uiguren.

Die Polizisten haben es auf alle abgesehen, die auch nur vage muslimisch wirken. Vor allem Männer mit Bärten müssen alle paar Meter ihren Ausweis vorzeigen und Fragen nach ihrem Wohin und Woher beantworten. Die Polizisten durchwühlen ihre Taschen und tasten sie ab: In der ganzen Region gelten Sondervollmachten. Kein Wunder, dass hier kaum einer mehr zum Vergnügen hinkommt.

Der umzäunte Basar hat seine Seele bereits verloren, als die Stadtverwaltung ihn kurzerhand neu bauen ließ: Was aussieht wie Lehmhütten, besteht heute aus Beton. Nun verliert die Gegend ihren letzten Rest von Leben und Geselligkeit. Das einst so quirlige Kashgar gleicht mehr und mehr einem einzigen großen Straflager mit Kontrollpunkten und Stacheldrahtsperren mitten in der Stadt.

Die chinesische Regierung geht mit einer grausamen Kampagne gegen das muslimische Volk der Uiguren vor. Ihre Heimat ganz im Westen Chinas findet bei der westlichen Weltöffentlichkeit kaum noch Beachtung – anders als etwa die Tibeter, die von der chinesischen Führung ebenfalls verfolgt werden. Das könnte auch daran liegen, dass Uiguren Muslime sind und keine Buddhisten.

Auch wenn China in Zeiten von US-Präsident Donald Trump zu einem immer wichtigeren Partner für Europa und die Bundesregierung wird: Der Charakter des Regimes hat sich nicht gewandelt. Im Namen von Sicherheit und Stabilität tritt der Staat elementare Rechte mit Füßen. In Xin­jiang landen normale Bürger in Lagern; ihre Moscheen werden abgerissen, sie dürfen nicht mehr ihre Traditionen pflegen; es herrscht lückenlose Überwachung.

Eine Stimmung wie im Gefängnis

Nicht nur Kashgar, auch alle anderen Städte der Region sind von massiver Polizeipräsenz heimgesucht. Aksu, Turfan, Hami, Yili im Norden der Provinz oder die Provinzhauptstadt Urumqi – überall in Xinjiang herrscht die gleiche Stimmung: wie im Gefängnis. Ein normales Leben ist kaum mehr möglich. Alle paar Hundert Meter hat das Militär Kontrollpunkte errichtet. Panzerfahrzeuge rollen auf den Straßen.

Die Region war einst für ihre ­Messerläden berühmt; die Uiguren waren stolz auf ihre Fertigkeiten beim Schmieden scharfer Klingen. Heute ist der Verkauf jeglicher Messer verboten. Es erscheint als zynisch, wenn Propagandabanner direkt am Eingang zur größten Moschee in Kashgar, der Idh Kha, mit weißen Schriftzeichen auf rotem Grund „gesellschaftliche Stabilität“, „Harmonie“ und „ethnische Einheit“ preisen.

Zhang Lijuan, Politologe

„Terroristen repräsentieren keine Nation, keine Religion, kein Volk“

Ausländische Journalisten sind in der Provinz Xinjiang nicht willkommen. Das geht nicht so sehr von den Uiguren aus. Sie beobachten die Fremden interessiert, trauen sich aber nicht, sie anzusprechen. Schnell landen sie auf schwarzen Liste der Regierung, berichtet ein Uigure, der sich ­Ahmed nennt und doch redet. Wer draufstehe, erhalte regelmäßig Besuch von der Militärpolizei, erzählt er – oder werde gleich verhaftet.

Die Behörden geben Journalisten zu verstehen, sie mögen verschwinden. Eine halbe Stunde nach dem Check-in in einem Hotel erscheinen Beamte der Staatssicherheit und fragen, was man hier zu suchen habe. Nicht einmal ein Gang zum Supermarkt ist möglich. Kaum hat man das Hotel verlassen: Ausweiskontrolle. Der Ausweis wurde aber im Hotel einbehalten – auf Anordnung der Behörden.

Dreimal so groß wie Deutschland, aber nur wenige Menschen

Peking glaubt, sich das leisten zu können. Die Region ist von der Fläche her dreimal so groß wie Deutschland, zählt aber gerade mal rund 20 Millio­nen Einwohner – für chinesische Verhältnisse ist das wenig. Ein Teil der autonomen Provinz besteht aus gewaltigen Gebirgen mit bis zu 8.000 Meter hohen Gipfeln. Es gibt auch eine karg bewachsene Hochebene, über die noch immer Nomaden mit ihren Schafherden ziehen. Den größten Teil aber nimmt die Wüste Taklamakan ein – zu Deutsch die „Wüste des Todes“. Wer sie einmal betritt, kommt nicht mehr lebend heraus, erzählen sich die Menschen. Trocken, karg, im Sommer zu heiß, nachts und im Winter zu kalt ist es in den meisten Teilen der Provinz. Und die Region ist ein hochexplosives Pulverfass.

Xinjiang war lange Zeit mehrheitlich von Uiguren bewohnt, einem turksprachigen Volk muslimischen Glaubens in Zentralasien. Doch inzwischen bilden Han-Chinesen die Mehrheit in der Provinz, zugezogene Chinesen aus dem Kernland der Volksrepublik. Und das ist auch Kern des Konflikts: Die Han-Chinesen werden von den Uiguren als Besatzer wahrgenommen, die es auf die Rohstoffe des Landes abgesehen haben und die Uiguren mit ihrer schieren Mehrheit zur Minderheit auf eigenem Boden machen.

Die in Xinjiang lebenden Han-Chinesen wiederum sehen in den Uiguren eine von Separatisten und Terroristen durchsetzte Minderheit, die rückständig ist und sich jeglicher Entwicklung verweigert. Als „kulturlos“ bezeichnet ein junger Han-chinesischer Taxifahrer in der Provinzhauptstadt Urumqi die Uiguren auf dem Weg in die Altstadt. Nur ihre Lammspieße – die seien lecker.

Xinjiang müsse wirtschaftlich entwickelt werden, lautete in den letzten Jahren das Rezept der Zentralregierung in Peking, um die „Unruheprovinz zu befrieden“. Zugleich ist Xinjiang nicht nur eine Provinz, in der große Öl- und Gasreserven vermutet werden. In Chinas Plänen einer „Wiederbelebung der Seidenstraße“ soll Xinjiang eine zentrale Rolle spielen. Von hier aus soll in den nächsten Jahren ganz Zentralasien für chinesische Unternehmer erschlossen werden.

Terroranschläge sollen Unterdrückung rechtfertigen

Vielen Uiguren sehen das, was die chinesische Führung in ihrer Heimatregion betreibt, als Genozid. Manche von ihnen haben sich radikalisiert. Tatsächlich gab es Anschläge wie den von 2014 etwa, als uigurische Angreifer in der Stadt Kunming 31 Menschen erstachen. Ein Jahr zuvor raste eine uigurische Familie mit einem Geländewagen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking in eine Menschenmenge, wobei mehrere Menschen ums Leben kamen.

Auch im Ausland gab es Anschläge: Kirgisische Behörden vermuten uigurische Terroristen hinter einem Sprengstoffattentat auf die chinesische Botschaft in Bischkek. Uiguren werden auch für einen Bombenanschlag bei einem von chinesischen Touristen gern besuchten Schrein im thailändischen Bangkok verantwortlich gemacht. Dieses Attentat kostete 20 Menschen das Leben.

Die chinesische Führung will eine Verbindung zwischen uigurischen Separatisten und dem globalen Dschihad ausgemacht haben. Exiluiguren seien über die Türkei nach Syrien und in den Irak gezogen und hätten sich dort vom IS oder der Terrororganisation Dschabhat al-Nusra zu Kämpfern ausbilden lassen. Auch die USA und die Europäische Union haben eine Gruppe mit dem Namen Turkestan Islamic Party als Terrororganisation identifiziert und sie verboten.

2016 übergab ein IS-Überläufer den USA eine Liste ausländischer Rekruten, 114 davon kamen aus Xinjiang. Zhang Lijuan, Politologe von der Xinjiang-Universität in Urumqi, spricht von den „drei Übeln“ Terrorismus, Extremismus und Separatismus – sie hätten auch China erreicht. Religiöse Fanatiker würden junge Uiguren zur Gewalt verführen. „Gewalttätige Terroristen repräsentieren keine Nation, keine Religion, kein Volk. Sie wollen lediglich das Land spalten.“ Umso ra­biater geht die KP-Führung gegen so ziemlich alle Uiguren vor.

Wahrscheinlich jeder zehnte Uigure ist eingesperrt

Laut Menschenrechtsorganisationen und Berichten US-amerikanischer Nachrichtendienste haben die chinesischen Behörden seit etwas mehr als einem Jahr womöglich Hunderttausende Uiguren in Internierungs- und Umerziehungslager gesteckt. Einige Schätzungen gehen gar von über einer Million Inhaftierten aus. Eine US-Kommission für China sprach von „den weltweit aktuell größten Massenverhaftungen einer Bevölkerungsminderheit“.

Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Schätzungen gehen auf Berichte entlassener Häftlinge und Aussagen von Augenzeugen zurück. In Kashgar etwa, der Stadt in Xinjiang mit den meisten ansässigen Uiguren, existieren allein vier Lager, von denen sich das größte in der Mittelschule Nummer 5 befindet.

Bericht einer US-Kommission

„Die weltweit größte Massenverhaftung einer Bevölkerungsminderheit“

Ein lokaler Sicherheitschef bestätigte vor einem Jahr, dass zeitweise „ungefähr 120.000“ Menschen in der Stadt interniert seien. In Korla, einer weiteren Stadt mit hohem Uigurenanteil, wurde vor einigen Monaten in chinesischen Medien ein anderer Sicherheitsbeamter zitiert: Die Lager seien so voll, dass die Beamten die Polizei anflehen würden, keine weiteren Menschen mehr zu bringen.

Was mit den Häftlingen in diesen Lagern geschieht, ist nur aus Erzählungen bekannt. Offiziell bestreitet die chinesische Regierung deren Existenz. Ein entlassener Häftling berichtet, er dufte so lange nicht essen, bis er sich bei Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping und der Kommunistischen Partei bedankt hatte. Die Häftlinge müssten mehrstündige Unterrichtseinheiten über sich ergehen lassen, in denen die Dozenten sie vor den Gefahren des Islam warnten. Dann würden sie abgefragt. Wer ideologisch falsch antwortete, müsse stundenlang an einer Wand stehen.

Andere Gefangene erzählen davon, dass sie gegenseitiger Kritik aneinander üben müssten. Auch von Isolationshaft, Misshandlungen bis hin zu schweren Folterungen wird berichtet. Im Januar etwa starb in der Provinzhauptstadt Urumqi der 82-jährige Muhammad Salih Hajim in Haft, ein angesehener Religionswissenschaftler. Offizielle Todesursache: Herzinfarkt.

Gründe für Verhaftungen gibt es aus Sicht der chinesischen Sicherheitskräfte viele: In der Umgebung von Kashgar wurde eine Frau eingesperrt, weil sie als Bestatterin Körper nach islamischem Brauch gewaschen hatte. Dreißig Bewohner von Yili in der Nähe der kasachischen Grenze kamen in Haft, „weil sie verdächtigt wurden, ins Ausland reisen zu wollen“. Weitere Vergehen sind reli­giöse Ansichten, Unkenntnis der chinesischen Nationalhymne oder Fragen nach dem Verbleib vermisster Angehöriger.

Adrian Zenz von der Akademie für Weltmission im baden-württembergischen Korntal hat herausgefunden, dass seit April 2017 mindestens 73 Umerziehungslager neu geschaffen wurden. 2016 hätten sich die Sicherheitskosten in der gesamten Provinz im Vergleich zu 2007 mehr als verfünffacht, im gesamten Jahr 2017 waren es mit umgerechnet rund 8 Milliarden Euro bereits zehnmal so viel.

„Wandel durch Erziehung“

Im Januar hatte auch der staatlich finanzierte US-Sender Radio Free Asia gemeldet, allein in der Stadt Kashgar seien 120.000 Menschen in Umerziehungslagern eingesperrt. Hochgerechnet auf die gesamte Provinz, hieße das: Von den insgesamt 10 Millionen Uiguren könnte rund eine halbe Million in Haft sein. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht von 800.000 in Xinjiang Inhaftierten aus. Timothy Grose, Professor an der Rose-Hulman-Universität im US-Bundesstaat Indiana, schätzt ihre Zahl gar auf bis zu einer Millionen. Er vermutet, dass jeder dritte männliche Uigure in jungen und mittleren Jahren inhaftiert ist.

Offiziell bestreitet die chinesische Führung in Peking das. Nach den Lagern befragt, antwortete das chinesische Außenministerium, man habe davon nichts gehört. Die Behörden in Xinjiang antworten nicht auf Anfragen. Bekannt ist jedoch, dass der chinesische Generalstaatsanwalt Zhang Jun die Verwaltung von Xinjiang aufgefordert hatte, den von der Regierung so genannten Wandel durch Erziehung auszuweiten, um den Extremismus zu bekämpfen.

Dabei soll es solche Umerziehungslager in China gar nicht mehr geben. Sie erinnern gerade die ältere Generation an die düsteren Zeiten unter Mao Tsetung, der in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Millionen Menschen zum Teil über Jahre hinweg in solche Lager schickte.

Die Umerziehungslager unterliegen nicht dem geltenden Recht. Richterliche Urteile sind für eine Inhaftierung nicht notwendig, die Festnahmen gehen ganz allein auf Befehle der KP-Funktionäre zurück. China hatte sie 2015 offiziell für abgeschafft erklärt. Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte sich persönlich dafür ausgesprochen. China sei schließlich ein Rechtsstaat, basierend auf klaren Gesetzen und einer unabhängigen Justiz. In Xinjiang heißt es nun aber von offizieller Seite: Ideologische Veränderungen seien nötig, um gegen Separatismus und islamischen Extremismus vorgehen zu können.

Übungsfeld für modernste Überwachungsmethoden

Zugleich hat die Staatssicherheit mithilfe modernster Überwachungstechnik einen Polizeistaat geschaffen. Unter chinesischen Unternehmen ist ein wahrer Wettlauf um die besten Techniken entbrannt. Kameras mit spezieller Gesichtserkennungssoftware, Roboter in Form von „R2D2“ aus „Star Wars“, die, ausgestattet mit Dutzenden Sensoren, einzelne Personen selbst in dichten Menschenmengen identifizieren können, spezielle Polizeibrillen, die Passanten scannen und deren Profil direkt mit einer Datenbank abgleichen können – all das ist in Xinjiang im Einsatz oder soll demnächst eingeführt werden.

Die in Peking ansässige Firma Hisign Technology wirbt damit, dass ihre Telefonscanner gelöschte Informationen von mehr als 90 mobilen Anwendungen auf Smartphones wiederherstellen können. „Wir setzen diese Art von Scannern in Xinjiang schon ein“, gab unlängst ein ranghoher Beamter zu, der im Frühjahr extra die 3.000 Kilometer Xinjiang nach Peking zur Messe für Sicherheitstechnologie angereist war. Im Angebot war dort auch eine Software, die Sprachnachrichten im Dialekt von Minderheiten gleich ins gängige Mandarin-Chinesisch übersetzt.

Der berühmte Karakorum Highway schlängelt sich, von Kashgar ausgehend, das Pamirgebirge hinauf, zunächst auf 2.000 Meter Höhe, dann auf 3.500 und schließlich zum Tashkurgan-Pass, dem mit 4.600 Metern höchstgelegenen Grenzübergang der Welt. Diese Autobahn soll Xinjiang mit den Nachbarstaaten Pakistan, Afghanistan und Kirgistan verbinden und einen Transportweg bis nach Europa schaffen. Sie ist zentraler Bestandteil von Chinas neuer Seidenstraße, für die die chinesische Führung Hunderte Milliarden Dollar zu investieren gedenkt. Auf chinesischer Seite ist alles fertiggestellt. Und doch ist die Straße wie leer gefegt.

Schon 50 Kilometer hinter Kashgar steht eine Polizeikontrolle. Eine Weiterfahrt sei nicht möglich, heißt es von dem Sicherheitsbeamten. Die Terrorgefahr in dem Grenzgebiet sei zu groß.

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