Kolumne So nicht: Anständig ungemütlich

Eine Vokabel, die lange nichts mehr bedeutete, feiert ein Comeback: Anstand. Die CSU wirft ihren Kritikern vor, keinen zu haben. Ist das anständig?

Unterkleider für Frauen und eine lange Unterhose für Männer an Schneiderpuppen

„Zwischen Anstand und Erotik“ hieß eine Dessous-Ausstellung in Chemnitz Foto: dpa

Es gibt Vokabeln, die ziehen sich ganz unauffällig durch die Moderne und richten dabei ziemlich viel Unheil an. Und das, obwohl sie nichts bedeuteten. Anstand zum Beispiel ist so ein Wort. Anders als Demokratie, Scheiße oder Geburtstag sind Wörter wie Anstand leer, genial undefiniert, offen für alles und jeden, also sozusagen der Grenzöffner unter den Termini. Sie lassen sich von allen benutzen, die nach etwas suchen, mit dem sie schmeißen können.

Anstand ist so wie Gemütlichkeit ein urdeutsches Stichwort. Es definiert sich weniger über seine positive Aussage als über seine Negation. Ungemütlich werden zum Beispiel ist eine Drohung, der man besser schleunigst aus dem Weg geht, denn wer sie ausspricht, kündet darin meistens eher einen Faustschlag als Regenwetter an.

Was aber genau eigentlich gemütlich ist, lässt sich schwer beschreiben. Bei deutscher Gemütlichkeit denkt man an Bierkneipen, Sofas, Fernseher und deutsche Opa-Nazis, was alles in allem sehr schnell sehr ungemütliche Erinnerungen hervorruft.

Essen mit Messer und Gabel

So verhält es sich auch mit dem Wort Anstand. Die Aussage, dieser Mensch sei ein anständiger Kerl, sagt eigentlich nur aus, dass dieser Mensch offenbar nicht unanständig ist. Man kann sich nur erschließen, dass diese Person sich zu benehmen weiß, also sich so verhält, wie man es von ihm erwartet. Und das heißt dann wahrscheinlich, dass diese Person nicht an Hauswände pinkelt und mit Messer und Gabel isst.

Etwas oder jemanden als unanständig zu bezeichnen macht die Sache sofort zu einem stinkenden, feindlichen Element, das ohne große Angabe von Gründen so behandelt werden kann wie die Reblaus oder der Maiszünsler.

Neulich in München waren Zehntausende Bayern bei strömendem Regen auf die Straße gegangen, um stellvertretend für noch viel mehr Menschen zu demonstrieren, dass man der CSU-Chefs oder zumindest ihrer Rhetorik mächtig überdrüssig geworden ist.

Münchner Bundesverdienste

Auf dem komplett gefüllten Königsplatz standen laut Polizeiangaben 25.000, laut Veranstalter 50.000 Menschen. Das heißt, es waren also etwa 37.500 ausnehmend gut frisierte und gut gekleidete, also anständige Bürger.

Diesen Bürgern muss es wie eine Ohrfeige vorkommen, dass ihnen ausgerechnet die CSU vorwirft, keinen „politischen Anstand“ zu besitzen. Seit drei Jahren kümmern sich die Bayern ohne großes Jammern, ohne große Opferinszenierung und ohne dafür um Schulterklopfen zu betteln, ehrenamtlich um die Geflüchteten und halten den politisch Verantwortlichen damit viele Probleme vom Hals.

Statt Wahlkampf mit Flüchtlingshetze zu betreiben, wie es die Jungs von der CSU seit Wochen tun, hätte die Combo die Herzen und Kreuze der Münchner und Bayern wesentlich leichter gewinnen können, hätte sie deren Anstand, also die bayerische Flüchtlingshilfe, für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen.

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