Vollkommen anwesend sein

Wer ist das auf der Bühne? Beim „People Festival“ im Funkhaus spielten bekannte und weniger bekannte Musiker zusammen

Justin Vernon und Aaron Dessner (als Big Red Machine) beim Proben Foto: Graham Tolbert

Von Jan Jekal

Am Donnerstagnachmittag werde ich über das Gelände des Funkhauses geführt. Hier in dem weitläufigen Komplex, weit weg von der Stadtmitte im Bezirk Treptow-Köpenick, haben sich 160 MusikerInnen versammelt, die in riesigen Räumen mit hohen Decken und hölzernen Böden und Wänden ihre Instrumente stimmen oder Stücke improvisieren oder zusammensitzen und überlegen, was sie zusammen machen wollen.

Sie proben für das People Festival, eine Art Avantgarde-Happening, dessen Konzept sich schnell erklären lässt: Die MusikerInnen üben in kleinen Gruppen eine Woche lang, ohne vorher irgendetwas verabredet zu haben, und stellen die Ergebnisse dann an zwei Festivaltagen dem Publikum vor. Es gibt keinen öffentlichen Programmplan, keine Hierarchie unter den KünstlerInnen, so ist der Gedanke. Auch kein Plakat, auf dem ihre Namen, proportional zur „Wichtigkeit“, in abnehmender Schriftgröße gedruckt sind. Auf dem Plakat des People Festivals stehen die Namen in alphabetischer Reihenfolge und gleicher Schriftgröße. Aber natürlich werden sich ein paar Tausend Leute das Ganze nur anschauen, weil unter diesen Namen ein paar richtig große dabei sind, Justin Vernon von Bon Iver zum Beispiel und die Dessner-Zwillinge von The National, die das Festival auch mitorganisiert haben.

Die treffe ich am Donnerstag bei meiner Führung leider nicht. Die Türen, die geschlossen sind, bleiben geschlossen, dort wird in Ruhe geprobt; wo Türen offen stehen, darf ich reingehen, aber da, wo ich reingehen darf, kenne ich die Leute nicht. An einem Punkt jedoch, ich bin in einem Raum voller Schlaginstrumente, in der Ecke wärmt jemand seine Klarinette auf, steht auf einmal Macaulay Culkin neben mir. Mit dem habe ich nicht gerechnet. Ist der mit seiner Velvet-Underground-Coverband hier, fragt ein anderer Reporter später. Nein, sagt die höfliche Presseperson und gibt die viel bessere Antwort: Er hat einen Podcast.

Das Funkhaus sieht toll aus. Früher produzierten und sendeten alle überregionalen Sender der DDR von hier aus; es gibt kleine Tonstudios und große Aufnahmesäle, ganze Orchester haben Platz, die Akustik ist fantastisch, Klänge wandern und schweben und bleiben.

Vor zwei Jahren fand die erste Ausgabe des Festivals statt, auch im Funkhaus. Damals gab es eine Menge unzufriedener ZuschauerInnen. Vielen war nicht bewusst, dass ein gekauftes Ticket keine Garantie bedeutete, die Lieblingsmusikerin auch wirklich zu sehen, und dass, selbst wenn man sie sehen sollte, sie keine bekannten Lieder spielen würde. Zudem war die Organisation wohl in Teilen chaotisch, es gab lange Schlangen, viel Verwirrung.

Die Veranstalter haben sich die Kritik von damals zu Herzen genommen: Dieses Jahr bekommen Gäste mit dem Armband einen Zettel in die Hand gedrückt, der das Konzept noch einmal erläutert. Zudem wird das Publikum in Gruppen mit zugeordneten Farben eingeteilt, es gibt vor den Konzertsälen Sammelstellen, wie bei Reisegruppen, und man geht als Gruppe in den Saal und verlässt ihn später auch gemeinsam.

Ich höre eine Menge guter Musik an diesem Wochenende

Ich höre eine Menge guter Musik an diesem Wochenende – eine Dancehall-Combo, einen Chor mit Cellobegleitung, eine Post-Rock-Gruppe, ein Calypso-Stück, eine Solotrompete (mit Ausdruckstanz-Umkreisungen), ein HipHop-Kammerorchester –, und in der Regel weiß ich nicht, wen ich gerade sehe. Das Kontextualisieren, das sonst in der Popmusik so wichtig ist, das Verbinden der Musik mit einer größeren, identitätssttiftenden Erzählung, ist hier nicht vorgesehen.

Es wäre zwar möglich her­auszufinden, wen ich alles sehe, aber es ist reizvoller, auf das Wissen zu verzichten. „We invite you to be fully present“ steht auf an die Wände geklebten DIN-A4-Bögen. Man wird also eingeladen, vollkommen anwesend zu sein. Das bedeutet eben auch, nach – oder schlimmer: während – einer tollen Performance nicht das Smartphone zu zücken und auf Recherchereise zu gehen, sondern die tolle Performance als Gegenwart, der man sich bewusst hingibt, als einen Moment des gemeinsamen Anwesendseins zu akzeptieren und zu schätzen.

Am Sonntagnachmittag stehe ich vor einer kleinen Bühne auf einem Hügel und sehe Justin Vernon backstage, wobei „backstage“ hier “zwischen ein paar Sträuchern“ bedeutet. Ein paar andere Festivalbesucher haben ihn auch erkannt und stellen sich in einer Reihe auf. Vernon empfängt sie nacheinander – freundlich, aber Fotos möchte er keine machen –, steigt schließlich auf die kleine Bühne und spielt ein überragendes Set, für vielleicht zweihundert Zuschauer. Danach verschwindet er. Er war da, ich war da, und die anderen waren auch da.