Chronist einer Intervention

Im August 1968 schoss Thomas Schleissing-Niggemann 200 Fotos. Die Tschechen beeindruckten ihn

Foto: privat

Eigentlich wollten wir, das heißt eine Gruppe von 17 jungen, kirchlich engagierten Leuten und ich, im August 1968 drei Wochen bei verschiedenen Partnergemeinden in der Tschechoslowakei verbringen. Bier und Sliwowitz schmeckten. Ich und mein Kumpel Michael rauchten Ligeros, die Leichten, das waren kubanische Zigaretten.

Vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag hörte ich am 21. August 1968 morgens zuerst nur mit halbem Ohr, weil ich gerade dabei war, meinen Rausch auszuschlafen. „Wach auf, die Russen sind da!“, rief ein Mädchen – eine Ansage, auf die ich zunächst mit dem Satz, sie solle den Mund halten, ich sei noch müde, reagierte. Diese Szene spielte sich in der Tatra ab – auf einem Zeltplatz namens Horny Smókovec. Hier hatten wir unser Lager aufgeschlagen.

An besagtem Morgen schnappte ich mir dann doch meine Kamera, eine Exacta, und lief zur Hauptstraße. Da sah ich, wie die Militärkolonnen vorbeizogen. DDR-Bürger, offensichtlich Touristen wie wir, meinten, ich solle lieber nicht fotografieren, man wisse ja nicht.

Diesen Rat habe ich ignoriert und in den folgenden Tagen eher unbemerkt so um die 200 bis 220 Aufnahmen gemacht. Von Horny Smókovec fuhren wir fluchtartig weiter, nach Ratibórz, zu unserer Partnergemeinde. Die Menschen dort waren hilf- und fassungslos und machten sich große Sorgen um unsere Sicherheit. Besonders beeindruckt hat mich, wie viele Tschechen Flagge gezeigt und sich hinter Dubček gestellt haben, trotz dieser starken Militärpräsenz. Sie leiteten uns auch durch die Ortschaften, weil überall aus Protest gegen den Einmarsch die Orts- und Straßenschilder abmontiert waren.

Am 23. August machten wir uns auf den Heimweg nach Deutschland, mussten aber, um nach West-Berlin zu gelangen einen Umweg über Bayern nehmen. Die Grenzen zwischen Tschechoslowakei und der DDR waren dicht.

Später bin ich noch mehrmals in die Tschechoslowakei gefahren. Da schwang immer Trauer mit, dass diese erhoffte Alternative weggebrochen war. Ich bin Lehrer geworden und habe einige meiner Fotos im Unterricht verwendet, um die damaligen Ereignisse anschaulich zu machen. Bei den Schülern kam das gut an.

Protokoll: Barbara Oertel