Protest gegen Flüchtlingstod im Meer: Not macht erfinderisch

Kein Chef, aber erfolgreich: Eben erst gegründet, bringt die „Seebrücke“ Zehntausende gegen die Flüchtlingspolitik auf die Straße.

Ältere Frau mit orangener Rettungsweste

Protest mit Schwimmweste: Nicht nur Junge und Hippe beteiligen sich bei der Seebrücke Foto: Axel Heimken

HALTERN/BERLIN taz | Freitag ist Markttag in Haltern am See. Der gepflasterte, von spitzgiebeligen Häusern umgebene Marktplatz bildet das Zentrum des 40.000-Einwohnerstädtchens zwischen Ruhrgebiet und Münsterland. Die Tische vor dem Eiscafé Dolomiti sind restlos belegt, an den Marktständen haben sich Schlangen gebildet. Mittendrin, vor der Sankt-Sixtus-Kirche, stehen drei blau-weiße Pavillonzelte, um die Tische darunter drängen sich rund 100 Menschen.

Auf einem der Tische steht ein Karton mit der Aufschrift „Protestbriefkasten“, daneben liegen Postkarten zum Selberschreiben. Adresse: Der Bundesinnenminister in Berlin. Eine Frau in Jeansjacke und Turnschuhen, Kurzhaarschnitt, steht daneben und kündigt per Mikrofon den nächsten Redner an.

Freitag ist heute nicht nur Markttag in Haltern, es ist außerdem Seebrücken-Tag. Petra Herrmann, so heißt die Frau mit dem Mikrofon, hatte die Idee für die Kundgebung, per WhatsApp und Facebook verschickte sie die Einladung. „Da kannst du nicht den Mund halten“, habe sie gedacht, als sie die Nachrichten über die steigende Zahl der Toten im Mittelmeer hörte. Sie sei dann auf die Seite einer Gruppe namens Seebrücke gestoßen und schnell sei ihr klar geworden, dass die Kundgebung in Haltern unter diesem Namen laufen sollte: „Es ist toll, dass wir hier in Haltern jetzt Teil einer bundesweiten Bewegung sein können.“

Begonnen hat diese Bewegung im Juni mit Nachrichten, die sich viele vorher nicht hätten vorstellen können: Während in Deutschland darüber gestritten wird, ob Flüchtlinge künftig schon an der Grenze zurückzuweisen sind, finden die Rettungsschiffe für die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer keinen Hafen mehr. Erst ist es die „Aquarius“, die erst nach mehrtägiger Irrfahrt im spanischen Valencia einlaufen darf. Dann verweigert Italien der „Lifeline“ das Anlegen, bis das Schiff schließlich auf Malta festgesetzt wird.

Vielleicht ist es diese Kombination aus einer Diskussion in Deutschland, in der sich CSU und AfD kaum mehr voneinander unterscheiden lassen, und den Nachrichten von Schiffen, die retten wollen, aber dies nicht mehr dürfen. In Berlin kommt eine kleine Gruppe von Menschen zusammen, die etwas tun wollen. Erst einmal geht es nur um eine Solidaritätsaktion für die „Lifeline“. Dann wird das Ziel größer: Die Gründung einer neuen Bewegung. Seebrücke soll sie heißen und all jene vereinen, die das Sterben im Mittelmeer nicht länger ertragen können.

Berlin-Kreuzberg: Wie alles anfing

Eine, die von Anfang an mit dabei ist, ist Bettina Hohorst, 42, eine Künstlerin und Filmemacherin aus Berlin-Kreuzberg. Als die Lage für die „Lifeline“ immer dramatischer wird, erzählt ihr ein Kollege von Überlegungen, mehr Öffentlichkeit für die Situation des Schiffes herzustellen, sagt Hohorst an einem warmen Augustabend in Berlin. Der Kollege setzt sie auf eine Messenger-Liste von etwa zehn Leuten, die bei einem ersten Treffen schnell übereinkommen, eine Demonstration organisieren zu wollen.

Bettina Hohorst aus Berlin

„Wir wollen zeigen, dass die Mehrheit diese mörderische Politik nicht mitträgt“

„Es war klar“, sagt Bettina Hohorst, silberner Ring an der Nase und grüne Farbreste vom Malen an den Fingern, „dass das gerade ein Wendepunkt in der politischen Situation ist.“ Dass Rettung nicht staatlich, sondern privat organisiert wird, daran habe man sich ja fast schon gewöhnt. „Aber dass die Leute jetzt auch noch daran gehindert werden, Menschen aus dem Wasser zu holen – das war schon so ein Moment, in dem ich nicht mehr wusste, wo ich eigentlich lebe.“

Farbgebung und Name der Gruppe seien beim ersten Treffen „ganz spontan“ entstanden. Orange liegt wegen der Rettungswesten nahe, die Silhouette einer Brücke, die ins Meer hinein ragt, wird zum Logo. „Die Stimmung war: Wir rufen einfach alle an und fragen, kannst du was machen?“, sagt Hohorst über die ersten Tage.

Und die Leute springen auf.

Mit Rettungswesten auf die Straße

Die Seebrücke trifft einen Nerv: Binnen kurzer Zeit gibt es Demonstrationen in Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Leipzig. In 17 Städten gehen Anfang. Juli schließlich Menschen auf die Straße, mancherorts wenige hundert, in Berlin mehr als 10.000. Sie haben Rettungswesten dabei und golden glänzenden Rettungsdecken, auf Bannern und Transparenten steht „Seebrücke statt Seehofer“ oder „Seenotrettung ist kein Verbrechen“. Die Seebrücke schafft es an diesem Abend in die Tagesschau.

„Dass das so schnell um sich greift, damit habe ich gar nicht gerechnet“, gesteht Bettina Hohorst. In der heißen Zeit der ersten zwei Wochen, sagt sie, habe sie „alles stehen und liegen lassen und den ganzen Tag im Chat gehangen“. Rund um die Uhr wird gearbeitet, je nach Kapazität und Möglichkeit: Ab sechs Uhr früh schicken die einen Nachrichten, bis vier Uhr nachts die anderen. Manche, erzählt Hohorst, hätten ihren Urlaub abgesagt, um die Seebrücke zu organisieren, andere, darunter viele FreiberuflerInnen wie sie selbst, ließen Aufträge sausen.

Sie selbst habe das Pensum nach den ersten Wochen mit bis zu 30 Stunden Engagement „etwas heruntergeschraubt“, vier bis acht Stunden sind es derzeit pro Woche. „Allein das Chatlesen, um informiert zu bleiben, kostet viel Zeit“, sagt Bettina Hohorst.

Es dauert keine zwei Wochen, bis die Grundstruktur steht: Auf einer schlichten Website erklärt die Seebrücke, nicht weniger Rettung zu wollen, sondern mehr, und kündigt die ersten Veranstaltungen an. Vor allem springt ein Button direkt ins Auge, auf dem „Selbst eine Aktion starten“ steht.

Denn das ist das Konzept der Seebrücke: Jeder und jede kann und soll sich einbringen. „Da ist niemand, der die politische Arbeit für uns macht – die machen wir selbst“, sagt Hohorst.

Wie der Protest nach Haltern kam

So ist es auch in Haltern am See. Petra Herrmann hat Bekannte gefragt, ob sie bei der Kundgebung mitmachen wollen – Reden halten, musikalische Begleitung, Kuchen backen. Herrmann ist Reitlehrerin. Die 80-jährige Oma einer ihrer Schülerinnen hat Duftsäckchen genäht für diesen Tag, die nun gegen eine Spende erworben werden können, der Erlös geht an Ärzte ohne Grenzen. Das Motiv auf den Protestpostkarten kommt von Aziz Mahmud, ein syrischer Künstler, der 2015 nach Deutschland floh und eine Weile bei den Herrmanns lebte: Ein Bild, das er in seiner ersten Flüchtlingsunterkunft mit Kugelschreiber auf ein Stück Styropor gemalt hat, dichtgedrängte menschliche Körper in einem Boot, das zu sinken droht.

Friedrich Halfmann, der eben eine kleine Rede gehalten hat, holt sich nun einen Kaffee. Der ältere Mann mit buschigen weißen Augenbrauen und blau-weiß gestreiftem Hemd, ist einer von denen, für die eine rote Linie überschritten worden ist. Er sagt: „Erst habe ich gesehen, wie die bei Pegida ‚Absaufen, absaufen‘ schreien, und dann die Äußerungen von Herrn Seehofer, man müsse die Crew der ‚Lifeline‘ zur Rechenschaft ziehen.“ Halfmann fackelt nicht lange: Er zeigt Horst Seehofer an, wegen des Verdachts auf „Behinderung von hilfeleistenden Personen“.

Petra Herrmann aus Haltern am See

„Es ist toll, dass wir hier in Haltern jetzt Teil einer bundesweiten Bewegung sein können“

Halfmann gehört wie einige andere hier zum Asylkreis Haltern, gegründet schon Anfang der neunziger Jahre, als die Balkanflüchtlinge kamen, wiederbelebt 2015, als einem Aufruf in der Lokalzeitung so viele hilfsbereite Menschen folgten, dass die für das erste Treffen geplanten Räumlichkeiten viel zu klein waren.

Mehrere hundert Personen und ein Programm von Deutschkursen bis zur Rechtsberatung umfasst dieses Netzwerk heute. Viele der Ehrenamtlichen haben Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen. Neben Halfmann stehen mehrere seiner MitstreiterInnen aus dem Asylkreis und erzählen, wie gut das alles funktioniert hier in Haltern: Handwerksbetriebe stellen Flüchtlinge ein oder bilden sie aus, der Draht zur Stadtverwaltung ist kurz, das Netzwerk der Ehrenamtlichen dicht.

Sicher, nicht jede Kleinstadt ist wie Haltern am See, wo man stolz auf die „offene Mentalität“ ist, die sich von der in den nahegelegenen Städten des Ruhrgebiets deutlich unterscheide, wie man erzählt.

Der AfD etwas entgegensetzen

Dennoch, eine Ausnahme sind die Menschen auf dieser Kundgebung auf dem Halterner Marktplatz nicht: Rund acht Millionen Deutsche haben sich Umfragen zufolge 2015 ehrenamtlich für Flüchtlinge engagiert, viele von ihnen tun es noch heute. Doch angesichts der asylpolitischen Diskussionen der letzten drei Jahre konnte man in Deutschland das Gefühl bekommen, diese Menschen gäbe es gar nicht, stattdessen seien die WählerInnen der AfD die einzigen, nach denen sich ein politisches Programm zu richten habe. Auch daran will die Seebrücken-Bewegung endlich etwas ändern: Es geht um die Sichtbarkeit für diesen anderen Teil Deutschlands, für den Wörter wie Asyltourismus wortwörtlich in die Mülltonne gehören und Seenotrettung keine zu verhandelnde Frage ist, sondern eine selbstverständliche moralische Pflicht.

Bettina Hohorst, ihre Freunde in Berlin und die BesucherInnen der Kundgebung in Haltern am See werden dabei nicht in allen Fragen übereinstimmen. Sprachlich nicht – das Wort Asylant etwa geht in Haltern vielen ganz selbstverständlich über die Lippen, und auch politisch nicht: Während die Seebrücken-Aktionen in Berlin von Linksradikalen geprägt sind, kommt in Haltern am See ein deutlich bürgerlicheres Publikum zusammen.

Aber gerade deswegen ist es interessant, was bei der Seebrücke passiert. Denn das Entsetzen über das, was aus deutscher und europäischer Asylpolitik geworden ist, geht über linksliberale, urbane Kreise weit hinaus. Neben Friedrich Halfmann steht da zum Beispiel Theo Haggeney, ebenfalls Mitglied im Asylkreis Haltern und „seit 30 Jahren CDU-Wähler“, wie er sagt. Auch er spricht von einer roten Linie, die in diesem Sommer überschritten worden sei, und dass es deswegen jetzt nicht mehr reiche, nur zu helfen, „man muss sich auch politisch organisieren“.

Petra Herrmann sagt, sie habe im letzten Herbst „zum ersten und letzten Mal“ CDU gewählt. Merkels „Wir schaffen das“ habe den Ausschlag gegeben, aber davon sei mittlerweile ja nichts mehr zu spüren. „Was in der Asylpolitik passiert, das ist eine einzige große Katastrophe“, sagt sie.

Virtueller und traditioneller Aktionismus

Noch etwas ist ungewöhnlich an der Seebrücke, nämlich wie hier virtueller und analoger Aktivismus ineinander greift. Gekonnt führt die Bewegung den viel gescholtenen „Clicktivism“ mit alten Formaten wie klassischen Demonstrationen oder Mahnwachen und künstlerischen Aktionen zusammen. Videos, Artikel, Petitionen werden auf Facebook oder Twitter geteilt, Gruppen gründen sich im Netz.

Zugleich ist das Bedürfnis groß, MitstreiterInnen auch im echten Leben gegenüberzutreten. In verschiedenen Städten treffen sich lokale Bündnisse, in Berlin gibt es ein Plenum, das eine Mischung aus Orts- und Kerngruppentreffen der InitiatorInnen ist.

An einem Freitagabend im August besteht es aus knapp 20 Leuten, die meisten zwischen 25 und 40 Jahren alt. Viele haben das orangene Logo auf ihre Bauchtaschen genäht oder auf Laptops geklebt. In einem Ladenlokal in Berlin-Kreuzberg bespricht die Runde zwei Stunden konzentriert, was ansteht: nächste Veranstaltungen, die Frage, ob der Namen Seebrücke in andere Sprachen übersetzt werden soll, die europäische Aktionswoche ab dem 25. August.

Längst nicht alle Teilnehmer kennen sich persönlich. Einige sind von Anfang an dabei, aber jedes Mal kommen neue dazu. Die schnell wachsenden Strukturen sind eine Herausforderung: Wie kann die Arbeit gut organisiert werden? Wie Information für die Neuen vermittelt? Was passiert, wenn das nächste Schiff von Italien oder gar Libyen festgesetzt wird?

Kein Vorstand und kein Aktionskomitee

Es gibt hier keinen Chef, keinen Vorstand und kein Aktionskomitee. Es existiere bisher auch kein klar begrenzten Bereich, in dem man sich zusammen setze und strategische Diskussionen darüber führe, wie es weiter gehen soll, sagt Bettina Hohorst. „Wir sind ziemlich unübersichtlich geworden, aber ich finde das ganz gut“, sagt sie. Hauptsache, es passiere etwas. „Wir sind kein Verein, wir sind ein Angebot“, sagt sie.

Ein Angebot, das auf Resonanz stößt: Inzwischen gab es Aktionen in 97 Städten und mehr als 70.000 DemonstrantInnen, darunter auch in Edinburgh, Amsterdam und Wien. Mehr als 80 Organisationen unterstützen die Seebrücke derzeit, darunter die Kampagnenplattform Campact und die Aktionskünstler vom Peng Collective. Auch Mitglieder von Parteien sind willkommen – aber ohne Logo, mit dem die Bewegung vereinnahmt würde, so die Befürchtung. „Wir wünschen uns, dass unsere Inhalte in die Parteien getragen werden – nicht umgekehrt“, sagt Hohorst.

Nun soll auch die erste europäische Protestwoche folgen: Vom 25. August bis 2. September finden Demonstrationen in vielen deutschen und einigen europäischen Städten statt, unter anderem in München. Köln, Hamburg, Zürich, Amsterdam und Warschau, wo eine Demo in der Nähe des Frontex-Hauptquartiers geplant ist.

„Die Wunschvorstellung ist eine Aktion in jeder europäischen Hauptstadt“, heißt es. „Aber wenn das nicht klappt, ist es auch nicht weiter tragisch – dann klappt es nächstes Mal.“ Dass die Seebrücke weiter geht, dass sie ausgebaut wird, davon gehen hier alle aus.

Ihr kurzfristiges Ziel sei es, dass wieder Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet werden dürfen, sagt Bettina Hohorst. „Die Schiffe stehen bereit, die Crews stehen bereit, die müssen wieder aufs Meer raus. Aber wir gehen schon davon aus, dass wir das Grundproblem nicht so schnell aus der Welt schaffen werden“, sagt sie und lacht. „Wir wollen sichere Fluchtwege. Und ich fürchte, das wird dauern.“

Ein längerfristiges Ziel sei es, sich zu vernetzen und den Rechtspopulisten etwas entgegen zu setzen. „Wir wollen sichtbar machen, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Europa diese mörderische Politik nicht mitträgt. Wir wollen andere Positionen in die Öffentlichkeit tragen, als es die Rechtspopulisten getan haben.“

Das sei ihr Wunsch, ihre Vorstellung – „Aber in welche Richtung das am Ende geht, darüber entscheiden die Leute, die sich engagieren wollen und das pushen.“

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