Rollstuhlfahrer über Para-EM: „Integration ist harte Arbeit“

Alhassane Baldé ist Deutschlands schnellster Rollifahrer. Er will bei der Para-EM noch eine Medaille gewinnen. Wie gewunden sein Weg war, darüber spricht er.

Alhassane Balde winkt

Voller Hoffnung: Alhassane Baldé Foto: dpa

taz: Herr Baldé, wie hoch ist denn momentan Ihr Stresspegel?

Alhassane Baldé: Gemäßigt. Warum fragen Sie?

Früher verunsicherte Sie der Anblick eines starken Konkurrenten und setzte Sie unter Stress.

Das war früher so. Ich gucke schon noch, was die Konkurrenz macht, aber ich verstecke mich nicht mehr. Durch die Erfolge der letzten Jahre habe ich mehr Selbstbewusstsein gewonnen. Ich kann mich auf mich und mein Training verlassen.

Ihre Lieblingsstrecke sind die 1.500 Meter, die am Sonntag gefahren werden. Warum?

Das ist die Königsdisziplin. Da ist Action drin. Man weiß nicht, was passiert. Das Feld ist extrem ausgeglichen, die Leistungsdichte hoch. Wir werden auch zu den großen Diamond-League-Meetings in Lausanne oder Zürich eingeladen, um zu demonstrieren, wie stark die Rennen in der Schadensklasse T54 sind. Anderswo in der Para-Leichtathletik mag es relativ einfach sein, Medaillen zu gewinnen, bei uns ist das definitiv nicht der Fall.

Geboren in Conakry (Guinea), wuchs der heute 32-Jährige im Münsterland auf. Auf einer Messe sah er mit 6 einen Rennrollstuhl für Kinder, probierte ihn aus. Daraus wurde mehr. Unterstützt vom Behindertensportler Errol Marklein reifte Baldé zum Spitzensportler im Rollstuhl. Seit er zwölf Jahre alt ist, nimmt er an internationalen Wettbewerben teil. 2004 startete er bei den Paralympics in Athen, 2008 in Peking und 2016 in Rio. 2015 verbesserte er die seit 15 Jahren bestehenden deutschen Rekorde über 1.500 und 5.000 Meter. Im Vorjahr gewann Baldé zwei Bronzemedaillen bei der Para-WM. Bei der Para-Europameisterschaft in Berlin gewann er Silber über 5.000 Meter.

Mit den Rennrollstühlen werden bis zu 40 km/h erreicht. Sie haben einen leichten Nachteil, weil Ihr Sportgerät nicht aus Karbon, sondern aus Alu ist. Wie sehr fällt das ins Gewicht?

Da könnte man definitiv noch mal aufrüsten, weil die Konkurrenz aus Amerika, England oder Japan mit Karbonrennstühlen fährt. Die werden zum Teil von namhaften Autoherstellern gebaut wie Honda, Toyota oder BMW.

Ihre Konkurrenz ist stark, allen voran der Schweizer Marcel Hug.

Nicht nur er ist sehr stark. Das Niveau ist in den vergangenen Jahren enorm angestiegen. Es gibt einen regelrechten Boom in unserem Bereich. Viele Weltrekorde wurden zuletzt gebrochen, zum Beispiel vom US-Amerikaner Daniel Romanchuk über 5.000 Meter. Ich habe in diesem Jahr auch schon zwei neue deutsche Rekorde aufgestellt. Mit meiner Leistung aus dem Jahr 2015 käme ich heute nicht mehr weit.

So richtig viele EM-Zuschauer haben Ihre Rennen im Jahn-Sportpark aber nicht gesehen. Eine Enttäuschung?

Ja, vor allem, wenn man bedenkt, wie das im Vorjahr bei der WM in London war. Da herrschte eine ganz andere Stimmung. Wir sind in Deutschland offenbar noch nicht so weit. Leider. Die Akzeptanz ist in England viel höher. In Deutschland wird nur über bestimmte Athleten berichtet, der Rest fällt meist hinten runter.

Sie kämpfen gegen diese Unsichtbarkeit auch mit einer eigenen Website an, die ziemlich professionell gemacht ist.

Man muss heutzutage visibel sein. Das ist wichtig. Ein paar lokale Sponsoren unterstützen mich schon. Allein mein Stuhl kostet ja 6.000 Euro. Auch mein Arbeitgeber, die Bundesagentur für Arbeit, unterstützt mich. Sie hat mich weitestgehend freigestellt fürs Training. Ich halte aber Vorträge für sie zum Thema Inklusion und Motivation.

Oftmals erzählen Sie vor Publikum einfach Ihre Lebensgeschichte. Sie sind in Guineas Hauptstadt Conakry geboren worden und wurden mit vier von Ihrem in Deutschland lebenden Onkel adoptiert. Wie oft waren Sie seitdem in Ihrer Geburtsstadt?

Zweimal, 1995 und 2002. Es ist extrem beschwerlich für mich, ich kann mich dort nicht so gut fortbewegen. Das ist vierte Welt, ein richtig armes Land, geprägt von Korruption und den klassischen Mustern eines solchen Landes.

Wie ist der Bezug zu Ihrem leiblichen Vater?

Ich habe ihn jetzt nach 16 Jahren in Deutschland wiedergesehen. Zwischendurch hatten wir natürlich Kontakt. Das Verhältnis ist nicht so eng. Mein leiblicher Vater ist eher ein Verwandter für mich. Die Bindung ist nicht so groß wie zu meinen Eltern.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Erwartet er, dass Sie die Familie in Guinea finanziell unterstützen?

Ja klar, das wird nicht nur erwartet, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Schauen Sie, mein Onkel hat mich damals aufgenommen, obwohl er Student war und keine Ahnung hatte, wie man ein behindertes Kind großzieht. Das zeigt doch, wie Familienbande in meiner Welt funktionieren.

Für Sie war die Ankunft in Deutschland überlebenswichtig.

Ich hätte mit meiner Behinderung in Guinea nicht überlebt. Ärzte haben Fehler gemacht. Sie haben bei der Geburt meines Zwillingsbruders nicht erkannt, dass da noch einer im Bauch ist, noch dazu in Steißlage. Als sie mich mit Gewalt herausholten, ging die Wirbelsäule kaputt.

In Deutschland erkannten Ärzte dann, dass Sie ab dem 8. Brustwirbel abwärts gelähmt sind.

Ich habe noch „Glück“ gehabt, weil ich das Gespür in den Beinen voll habe. Die Sensorik ist da, die Motorik nicht.

Wie ist Ihr Stiefvater nach Deutschland gekommen?

Er ist 1978 mit 23 vor politischer Verfolgung geflüchtet. Er lief Gefahr, gefangen genommen und gefoltert zu werden. Er hat es geschafft, sich zu etablieren. Er hat Deutsch gelernt, BWL in Münster studiert, im Studium seine spätere deutsche Frau kennengelernt. Heute ist er Controller bei einem Versicherungsunternehmen.

Das ist eine sehr aktuelle Geschichte.

Ich hatte Glück, in so eine Familie hineinzuwachsen. Für ihn war Inte­gration sehr wichtig, harte Arbeit. Er wollte, dass ich in der Schule gut bin. Er hat mir vermittelt: Auch wenn ich schwarz und behindert bin, kann ich es hier schaffen und solle mich bloß nicht hängen lassen. Nur deutscher Staatsbürger ist er noch nicht geworden. Das wollte er nicht. Er sagt, er sei ein „echter Guinese“ und ich ein falscher.

Und Sie?

Ich habe den deutschen Pass schon als Kind bekommen. Mein Vater (gemeint ist sein Stiefvater; d. Red.) hat sich angepasst an Deutschland, er hat sich durchgebissen. Er ist viel härter als ich. Er hätte ja auch bitter werden können und sich nur mit Afrikanern umgeben können, aber nein, er hat die Kultur hier umarmt, ohne seine eigene zu vergessen. Das ist, finde ich, auch ein ganz guter Leitfaden für andere Flüchtlinge. Es würde zumindest für mehr Akzeptanz sorgen.

Können Ihrer Meinung nach Fluchtursachen in Guinea mit europäischem Geld wirksam bekämpft und kann das Land so stabilisiert werden?

Nein, das sind nur Bekenntnisse. Es gibt so viele Probleme: Bildung, Korruption, tradierte Familienverhältnisse, Armut. Diejenigen, die so leichtfertig daherreden, sollten mal ein halbes Jahr vor Ort leben. Im Grunde müsste alles von rechts auf links gedreht werden.

Auf Twitter haben in der letzten Zeit viele Migranten unter dem Hashtag #MeTwo über Alltagsrassismus in Deutschland berichtet. Hätten Sie da mitmachen können?

Ich war nicht so krass davon betroffen. Explizit habe ich Rassismus nicht erlebt.

Wirklich?

Doch, einmal ist was passiert. Wir haben in Düsseldorf in einer Gegend gewohnt, wo es nicht gern gesehen war, dass eine deutsche Frau mit einem Schwarzen zusammenlebt. Sie haben dann „Hure“ an die Hauswand gesprüht. Das habe ich als Kind natürlich nicht richtig einordnen können.

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