Ein Mord wie jeder andere?

Ein Mann erschießt beinahe einen Syrer. In der Wohnung findet die Polizei Nazi-Devotionalien. Ein fremdenfeindliches Motiv vermag die Justiz bisher nicht zu entdecken

Torgau: hübsch und aufgeräumt Foto: Gabriele Hanke/imago

Aus Leipzig Konstantin Nowotny

Es gibt Fälle, die taugen zum nationalen Drama. Keine 24 Stunden nach der tödlichen Attacke auf einen 35-jährigen Deutschen nutzte der rechte Mob in Chemnitz die Tragödie als Vorwand, um die ganze Stadt zum Brennpunkt zu erklären, und machte Jagd auf Ausländer. Es gibt aber auch Gewalttaten, die höchstens in der Lokalpresse auftauchen.

Fast schon heimlich geht in diesen Wochen am Landgericht Leipzig ein Prozess zu Ende. Dem 44-jährigen Angeklagten Kenneth E. wird vorgeworfen, im Juli 2017 einem 21-jährigen, aus Syrien Geflüchteten in der sächsischen Kleinstadt Torgau auf offener Straße zwei Mal in die Brust geschossen zu haben. Der schwer verletzte junge Mann überlebte knapp. Laut Gerichtsmedizin verfehlte das Projektil nur um Millimeter das Herz.

Die sächsische Justiz stuft den Fall bisher als einen ganz normalen Mordversuch ein. Auf eine kleinen Anfrage der Linken-Abgeordneten im sächsischen Landtag Kerstin Köditz meldete das sächsische Innenministerium, es habe im Jahr 2017 keine Tötungsdelikte, auch keine versuchten, „aus rassistischen, fremdenfeindlichen, rechtsorientierten und/oder antisemitischen Gründen“ im Freistaat gegeben. Zwei Schüsse in die Brust eines Syrers – nur ein Streit unter Männern, der eskalierte?

Das mag mit einem trüben rechten Auge so aussehen. Für die restlichen Indizien müsste man sich selbiges aber schon ausstechen. Nach einer Hausdurchsuchung stellte die Polizei beim Angeklagten zwei Weinflaschen sicher, auf denen Adolf Hitler und Erwin Rommel abgebildet waren. Kenneth E. bekundete, er habe diese seinem Schwiegervater schenken wollen. Der sei schließlich langjähriger NPD-Wähler, und: „Man muss sich ja beliebt machen.“ Kein rechtsextremes Motiv, nirgends.

„In der Logik der Polizei hätte der Angeklagte mit den gefundenen Nazi-Flaschen auf die Betroffenen losgehen müssen, damit sie den Fall als rechte Gewalttat einordnet“, meint Sandra Merth. Sie ist Sprecherin von „Irgendwo in Deutschland“. Das antirassistische Bündnis hat den Prozess ausführlich begleitet. Dass es keinen rechten Bezug geben soll, wird dadurch noch abwegiger, dass während seiner Haftzeit bereits Bilder von Nazigrößen in seiner Zelle gefunden wurden“, fügt sie hinzu. Schon einmal saß Kenneth E. 18 Jahre wegen Mord.

Es gibt aber noch mehr Indizien, die die These der Polizei von einer „ganz normalen“ Gewalttat in Frage stellen. Bevor in der Julinacht die beinahe tödlichen Schüsse fielen, gab es Streit zwischen Bekannten von E. und einer Gruppe um den angeschossenen Syrer an einer Tankstelle in Torgau. Schon hier soll hier laut einer Zeugenaussage aus der Gruppe der Deutschen der Satz „Kanaken, verpisst euch in eure Heimat“ gefallen sein. Ein weiterer Zeuge sprach später im Gerichtssaal von den „Drecksausländern“. Die Streitszene hatten noch bei der polizeilichen Vernehmung mehrere Zeugen ähnlich geschildert. Genau wie die Schussszene kurz darauf: Nachdem er vor seiner Wohnung Tumulte mitbekam, soll Kenneth E. herausgestürmt sein und sofort aus unmittelbarer Nähe auf die Gruppe der Migranten geschossen haben.

Monate später vor Gericht kann sich keiner der Beteiligten, weder aus der Gruppe um Kenneth E. noch aus der Gruppe der Migranten, eindeutig an das Gesicht des Schützen erinnern. Ein Zeuge berichtet von Droh­anrufen, ein anderer ist seit Beginn der Verhandlung nicht mehr aufzufinden. Der breit gebaute Kenneth E. beteuert, zur Tatzeit geschlafen zu haben. Die Plädoyers wurden am Dienstag vertagt, das Urteil soll am 20. September fallen.

Die sächsische Justiz stuft den Fall bisher als einen ganz normalen Mordversuch ein

Ein fremdenfeindliches Motiv zählt zu den „niederen Beweggründen“, die eine deutlich höhere Strafe zur Folge haben. Am ursprünglich vorletzten Verhandlungstag vergangenen Mittwoch war seitens der Justiz hiervon erneut keine Rede. Im Juni sagte ein Kriminalpolizist vor Gericht, der Angeklagte könne schon deshalb kein fremdenfeindliches Motiv haben, da er mit einem „Ausländer“ befreundet sei. Gemeint ist ein mutmaßlicher Bekannter des Angeklagten, ein Russe.

Weitere Beweisanträge ziehen die Verhandlung in die Länge. Ob bis zur geplanten Urteilsverkündung im September noch einmal ein rassistisches Motiv zur Sprache kommt, bleibt unklar.

„Wenn sich das im Urteil nicht niederschlagen wird, zeigt es die strukturelle Blindheit einer Justiz, in der nur Rassist ist, wer NPD-Mitglied ist oder zu Pegida geht“, meint Sandra Merth. Der Mord, der glücklicherweise ein versuchter geblieben ist, könnte damit zu einem weiteren Baustein in den „sächsischen Verhältnissen“ werden.