„Wir sind darauf angewiesen, dass Eltern einen guten Job machen“

Der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD) hält 27 Stunden Unterricht in der Grundschule für nicht ausreichend, um Kinder zu bilden. Deshalb will er eine Hausaufgaben-Zeit vorschreiben

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Ties Rabe, 57, arbeitete als Redakteur und als Gymnasiallehrer und ist seit 2011 Schulsenator in Hamburg.

Interview Kaija Kutter

taz: Herr Rabe, Sie sagten zum Schulstart, einige Schulen sollten mehr Hausaufgaben geben. Welche Schulen meinen Sie?

Ties Rabe: In der Vergangenheit hatte ich mich dafür eingesetzt, dass es mit den Hausaufgaben nicht übertrieben wird und wir eine Obergrenze festlegen von einer Stunde pro Werktag oder fünf pro Woche. Das war Richtung Gymnasien gemünzt, wo wir immer wieder von Einzelfällen hörten, in denen es zu viel Hausaufgaben gab. Jetzt habe ich bei einer Reihe von Schulbesuchen den Eindruck gewonnen, dass einzelne Schulen gar keine Hausaufgaben mehr geben. Das betrifft Grundschulen, Stadtteilschulen und Gymnasien gleichermaßen. Da sage ich, wir benötigen auch eine Untergrenze. Wenn ich hier aus Versehen „Hausaufgaben“ sagte, bitte ich um eine leichte Korrektur, wir sprechen nur von „Schulaufgaben“.

Eine Grundschule schreibt ihren Eltern: „Hausaufgaben geben wir an einer Ganztagsschule nicht mehr auf. Sie können am Abend einfach Mama oder Papa sein.“ Meinen Sie sowas?

Deshalb spreche ich von Schulaufgaben. Mir geht es nicht darum, dass man zwingend zu Hause etwas machen muss. Mir geht es darum, dass am Nachmittag, wenn kein Unterricht mehr ist, Schüler noch etwas lernen und dazu Schulaufgaben machen. Die können selbstverständlich im Ganztag gemacht werden. Aber es ist schon wichtig, dass wir die Zeit am Nachmittag nutzen, damit Kinder Dinge wiederholen oder einüben können.

Ist Ihr Appell eine Manöverkritik an der Ganztagsschule? Es gibt ja fast nur Ganztagsschulen in Hamburg.

Ich kritisiere, wenn Kinder am Nachmittag keine Gelegenheit haben, zusätzlich zu lernen. Eine ganze Reihe von Elternhäusern bieten eine lernanregende Umgebung und lernen mit den Kindern. Aber wir haben viele, da ist das nicht der Fall. Da wünsche ich mir, dass die Schule Anregung gibt und den Kindern sagt: „Am Nachmittag beschäftigst du dich damit, du liest einmal jenes Buch, oder du lernst das kleine Einmalsieben.“

Sie sagten: „Wir haben das früher doch auch gemacht“. Früher gab es kaum Ganztagsschulen.

Die Frage ist schlicht, was man nachmittags im Ganztag macht. Wissenschaftler kritisieren die soziale Ungerechtigkeit unseres Schulsystems und führen sie auch darauf zurück, dass Kinder eigentlich relativ wenig Schule haben. Schulaufgaben können diesem Problem begegnen. Ein Grundschüler ist mindestens zwölf Stunden wach. Das sind in der Woche 84 Stunden. Weniger als ein Viertel dieser Zeit verbringt ein Kind im Grundschulunterricht. Deswegen sind wir leider sehr stark darauf angewiesen, dass Eltern in die Lücke springen und einen guten Job machen. Da, wo das nicht passiert, gibt es eine große Benachteiligung von Kindern. Mir liegt deshalb daran, vor allem im Ganztag zusätzliche Lernzeit über die Unterrichtszeit hinaus zu gewinnen.

Ganztagsschule geht bis 16 Uhr. Eltern wird versprochen, dass es danach keine Hausaufgaben gibt. Würde sich das ändern?

Nein. Ich möchte das Versprechen nicht brechen. Und wenn wir jetzt mal über realistische Zeiten reden, dann sollte ein Grundschüler in Klasse 2, 3 und 4 zwei bis vier Stunden in der Woche zusätzlich zum Unterricht Schulaufgaben machen. Angesichts von 15 Stunden im Ganztag bleibt genügend Zeit fürs Mittagessen oder für Spielen oder andere Dinge. Es würde reichen, wenn im Ganztag täglich eine halbe Stunde für Schulaufgaben organisiert wird.

Es gibt Schulen, die haben Alternativen entwickelt. Zum Beispiel Mathe-Klub oder Lernbüros, individuelle Förder- und Lernzeiten. Ist das in Ihrem Sinne oder kritisieren Sie dies?

Weder noch. Wie solche Schulaufgaben gestaltet werden, müssen die Lehrer der Schule im Kontext ihres Unterrichts bewerten. Da kann ich mir vorstellen, dass es Förder- und Lernzeiten gibt. Es muss aber auch möglich sein, dass Kinder das Buch „King Kong, das Fußballschwein“ aus dem Schulunterricht lesen und nicht gesagt wird: „Heute spielen wir Kaufmannsladen“.

Es geht Ihnen um Schulaufgaben für jedes Kind.

In der Tat. Die Schulaufgaben sollen mit dem Unterricht vernetzt sein.

Planen Sie eine Richtlinie?

Das erörtern wir demnächst mit den Schulleitungen. Wir besuchen alle Grundschulen und gucken, wie es mit den Schulaufgaben läuft. Welche Wege die richtigen sind, das muss man dann sehen.

Der Ganztagsausbau geschah in Ihrer Amtszeit. Ging das zu schnell? Ist es nicht Ihr Fehler, wenn es nicht gut läuft?

Ich würde gern die teilnehmenden 40.000 Kinder fragen ob sie das zu schnell fanden und lieber zu Hause wären. Dem Schulsenator vorzuwerfen, er habe das zu schnell gemacht, ist seltsam. Hamburg war viel zu langsam. Es gab in der Stadt ein großes Betreuungsproblem. Das mussten wir lösen. Dass etwas dann weiterentwickelt wird, ist das andere.

Eltern von älteren Schülern kritisieren, dass ihre Kinder trotz Ganztagsschule nach 16 Uhr viel zu tun haben: für Klausuren üben, Vokabeln üben.

Aber diese Kinder wären doch gar nicht davon betroffen, wenn ich sage, jeder Schüler soll 20 oder 30 Minuten Schulaufgaben machen. Offensichtlich machen sie ja schon Schulaufgaben.

Aber wie bewerten Sie das denn? Der Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung kritisiert ja auch, dass Jugend als eigne Lebensphase nicht mehr stattfindet.

Wir müssen ein vernünftiges Maß finden. Mich wurmt schon, dass ganz Deutschland eine angebliche Bildungskatastrophe ständig heraufbeschwört. Es gab einen Aufschrei, als die jüngste Pisa-Studie ergeben hat, dass Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern in den Kernkompetenzen schlechter wurde. Das wühlt alle auf. Aber nun müssen wir auch den Mut zum Handeln haben. Niemand lernt lesen, wenn er zu Hause Freizeit vor dem Fernseher verbringt. Darum geht es mir. Ich sage: Lediglich 27 Schulstunden Unterricht zu besuchen, ist zu wenig. Mehr als fünf Stunden zusätzlich noch zu Hause zu machen, wäre mir zu viel. Wenn ein Kind heute schon viel macht, kriegt es nicht mehr auf. Aber die, die bisher nichts gemacht haben, die will ich erreichen.

Das informelle Lernen und Leben außerhalb der Schule kommt zu kurz. Die Kinder daddeln noch auf dem Smartphone, und dann ist Bettzeit.

Sicher muss man da hingucken. Die unterrichtsfreie Zeit am Nachmittag beginnt in der Regel um 14 Uhr. Zubettgehen ist sicher nicht vor halb neun, dazwischen liegen sechseinhalb Stunden. Da ist bei 30 Minuten Schulaufgaben noch eine Menge Zeit, die man sinnvoll für andere Dinge nutzen kann.

Der Ganztag geht bis 16 Uhr.

Ich hab bereits gesagt, dass Schulaufgaben in der Ganztagsschule gemacht werden sollten. Aber nicht im Unterricht, sondern am Nachmittag im Ganztag, zusätzlich zu den Unterrichtsstunden. Zwischen dem Unterrichtsende von 14 Uhr und einer Zubettgehzeit von 20.30 Uhr liegen sechseinhalb Stunden. Nach Abzug von einer halben Stunde Hausaufgaben ist da noch viel, viel Zeit für Sportverein, Ballett oder Klavierunterricht.

Für die gleiche Aufgabe braucht ein Kind fünf Minuten und das andere acht mal so lang.

Ohne Üben können Kinder nicht lesen lernen. Dass man das Wort „Wahl“ mit „h“ und „Wal“ ohne „h“ schreibt, ist eine Sache von Auswendiglernen. Wenn nur der Unterricht das alles vermitteln, vertiefen, einüben und festigen soll, müssen wir uns über Bildungskatastrophen nicht wundern.

Wäre es eine Option, die Halbtagsschule wieder einzuführen, mit guten Hausaufgabenhilfen für Bedürftige?

Um Gottes Willen. Ich werde nicht rund 40.000 Grundschüler, die täglich freiwillig und gern die Ganztagsschule besuchen, wieder vor die Tür setzen. Zudem ist die Teilnahme freiwillig, wer will, darf zu Hause bleiben.