„Manhattan Beach“ von Jennifer Egan: Mit mitfühlender Unerbittlichkeit

In ihrem neuen Roman taucht Jennifer Egan historisch ab. Sie erzählt mit allen Taschenspielertricks aus dem New York des Zweiten Weltkriegs.

Ein dicker Knoten

Knoten knüpfen kann die Autorin Foto: unsplash/ Atik sulianami

In einer Schlüsselszene muss Anna Kerrigan zur Probe einen Knoten lösen, während sie an Land in einem hundert Kilogramm schweren Taucheranzug steckt, einem dieser archaisch anmutenden Ganzkörperanzüge mit Metallhelm und schweren Handschuhen, die nur drei Finger haben. Jennifer Egan drückt an dieser Stelle sprachlich gar nicht auf die Tube, und doch vermittelt sie einen Eindruck davon, wie schwierig diese Entknotungsaufgabe zu lösen ist.

Jennifer Egan hat sich die entgegengesetzte Aufgabe gestellt. Sie musste die erzählerischen Knoten ja erst einmal knüpfen. Die Konsequenz, mit der die 1962 geborene Schriftstellern das tut, mag einen zunächst überraschen. Aus den USA schwappt „Manhattan Beach“ eine gewaltige Bugwelle an Lob voraus. Ganz Amerika hatte sich offenbar in diesen Roman verknallt.

Aus der Schar der Egan-Fans aber gab es auch enttäuschte Stimmen. Ihr vorangegangener Roman „Der größere Teil der Welt“ war ein glücklich machendes Erzähllabor, in dem die Autorin lässig mit Erzählperspektiven spielte. Ein Kapitel war ganz in der Form von Schautafeln erzählt. Das war schon toll. Und nun hat sie „nur“ einen historischen Roman geschrieben, und das dazu noch weitgehend traditionell?

Tatsächlich braucht man ein bisschen, bevor man sich auf das neue Setting eingestellt hat. Musterschülerinnenhaft liefert Egan die Beschreibungen von Oldtimern und Nachtclubs, die man in einem Roman, der in den zwanziger Jahren einsetzt und dann das New York des Zweiten Weltkriegs beschreibt, halt braucht.

Seismische Umwälzung

Außerdem gibt es allzu auktorial anmutende Formulierungen: „Als Anna das Besteck zur Kantine zurückbrachte, spürte sie, wie sich in ihrem Inneren eine seismische Umwälzung vollzog.“ Seismische Umwälzung! So abstrakt beschreibt man doch keine komplexen Seelenlagen.

Jennifer Egan: „Manhattan Beach“. A.d. Englischen von Henning Ahrens. Fischer, Frankfurt a. M. 2018, 496 S., 22 Euro.

Im Hintergrund ist Jennifer Egan aber längst dabei, ihre Knoten zu knüpfen. Sie erzählt eben nicht nur die Emanzipa­tionsgeschichte der Anna Kerrigan, die sich in den Kopf gesetzt hat, die erste Marinetaucherin der USA zu werden. Sondern sie verwebt diesen Strang mit zwei anderen.

In dem einen versucht der Nachtclubbesitzer Dexter Styles sich zum legalen Geschäftsmann zu wandeln – seit dem „Paten“ ein klassisches Motiv. In dem anderen geht es um Annas Vater, der irgendwann einfach verschwindet. Er war zwischen die Fronten der Gewerkschaften, der Verbrecherbanden und der Polizei geraten, die weite Teile des New Yorker Hafens unter sich aufteilen – auch das ein klassisches Ambiente der US-Kultur.

Man kommt ziemlich weit damit, diesen Roman als Epos über die amerikanische Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs zu lesen

Man kommt ziemlich weit damit, diesen Roman als Epos über die amerikanische Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs zu lesen. Ganz nebenbei zeichnet Jennifer Egan dabei ein desillusioniertes Bild. So liegt die wahre Macht in den Händen der Großväter, die, sicher geschützt in ihren Villen, die Kriegsgewinne unter sich aufteilen und bei denen es zwischen legalen Bankern und skrupellosen Verbrecherbossen nur graduelle Unterschiede gibt.

Mitfühlende Unerbitterlichkeit

Wirklich gekriegt hat mich dieses Buch aber vor allem durch die vielen Wunderlichkeiten und erzählerischen Taschenspielertricks, die Jennifer Egan in die Handlung einbaut, gerade durch die Aspekte also, die nicht in Realismus und Milieuschilderung aufgehen. Es gibt wunderbare Rettungen, Momente der Erkenntnis, die zu Momenten des Todes werden, es gibt magische Kanäle, die Anna und ihren Vater miteinander verbunden, über alle Zeiten und Orte hinweg.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Dass das auch etwas von Kolportage und Pulp Fiction auf waghalsigem Niveau hat, weiß Jennifer Egan. „Ein Kinofilm hätte hier geendet“, heißt es einmal, als Anna ihren ersten Tauchgang im Triumph beendet. Im Roman aber schickt die Autorin sie mit der mitfühlenden Unerbittlichkeit, die sehr gute Menschenschilderer auszeichnet, weiter durch die Ambivalenzen ihres Erwachsenwerdens.

Und ganz allmählich bekommt man dabei das Meer aus allen möglichen Perspektiven erzählt. Wie es an den Strand läuft. Wie es sich in der Tiefe anfühlt. Wie es ist, in einem Rettungsboot in den Weiten eines Ozeans zu treiben. Überhaupt das Meer. Herzergreifend die Szene, in der Annas behinderte Schwester zum ersten Mal in ihrem Leben auf diese Unendlichkeit sieht und ihre ersten Worte lallt (wie es dann verstörend weitergeht, soll man nicht verraten).

Fan geblieben

Über Vater-Tochter-Beziehungen bekommt man einiges erzählt. Über Frauenschicksale. Über Sozialkontrolle. Ausbruchsversuche. Gläserne Decken, an die man stößt – bei der Marine sind es auch eiserne Wände. Und im Hintergrund läuft der Krieg und wirbelt die Sozialbeziehungen an der Heimatfront durcheinander.

Klar, das alles atmet jetzt nicht die avancierte Coolness, die „Der größere Teil der Welt“ auszeichnete. Aber der Roman – und wie er die Kraft und den Trost des Erzählens behauptet – kann einen doch ziemlich beschäftigen. Ich bleibe Fan.

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