Wo Fahrradfahrer Vorfahrt haben: Alles öko im grünen Gent

Autos raus, Biogemüse rein: Das belgische Gent gilt als Öko-Hauptstadt Europas. Ein Besuch mit dem Fahrrad beim Kürbis-Burger-Verkäufer.

Schöne alte Häuser an einem Platz, Radler im Vordergrund

Schön hier: Der Korenmarkt in der Genter City ist selbstverständlich autofrei Foto: Carlos Sanchez

GENT taz | Das Erste, was an Gent auffällt, ist ein Schlauchboot. Es dümpelt auf der Leie, dem Fluss, der dem gepflasterten Zentrum Postkartenmotive liefert. In diesen Tagen hat der Sommer noch einmal Anlauf genommen. Über der Stadt hängt eine hedonistische Stimmung. Man will sich treiben lassen, ganz wie die Frau und die beiden Männer in ihrem Schlauchboot. Womöglich sind es Studenten? Salonsozialisten? Öko-Aktivisten gar? Immerhin hat das Boot keinen Motor, sondern nur, ganz nachhaltig, Paddel zur Fortbewegung.

Natürlich kommen diese Assoziationen nicht von ungefähr. Wer in Belgien den Namen Gent hört, denkt an die Universität, die größte im nördlichen Landesteil Flandern. An progressive Städter, an Kultur, Lebensfreude und den zehntägigen Ausnahmezustand der „Gentse Feesten“, der jedes Jahr im Juli beides vereint. Womöglich auch an alternativ gekleidete Menschen in den Zwanzigern und Dreißigern. Und, natürlich: an Ökologie. Gent, das klingt nach einem belgischen Freiburg, nur weniger provinziell.

Das mit der grünen Reputation lässt sich an einer Anekdote beschreiben. Als im Frühjahr die Plastic-Attack-Welle – Protestaktionen gegen die Verpackungsmassen in Supermärkten – aus Großbritannien auf den Kontinent schwappte, fand die erste Aktion in Belgien in Brüssel statt. Organisiert wurde sie von einem Mann, der zuvor nicht als Öko-Aktivist in Erscheinung getreten war. Danach schloss er sich der Bewegung in Gent an. Ein paar Wochen später gab es auch hier eine Plastic Attack: eine konzertierte Aktion in nicht weniger als 15 Supermärkten, und – laut Ankündigung „wäre Gent sonst nicht Gent“ – mit anschließender Party samt Live-Auftritten.

A propos Plastik: Es verwundert nicht, dass man, kaum mehr als ein paar Minuten von der Leie entfernt, auf einen Ort wie diesen stößt: ein verpackungsfreies Geschäft namens „Ohne“, mit einer ganzen Batterie an Behältern voller Trockenfrüchte und Tee, Nüssen, Nudeln und Granola-Kreationen, dazu Wasch- und Reinigungsmittel zum Selbstabfüllen. Im Hinterraum lagern Kisten voll Obst und Gemüse, versehen mit dem Vermerk „bio und europäisch“. Auf der Website bekennt sich „Ohne“ zu „kurzen Versorgungsketten“.

Bei „Ohne“ gibt es prinzipiell nichts Verpacktes

Am Hauptbahnhof Sint Pieters hat kürzlich eine weitere Filiale eröffnet, erzählt Emmanuelle Deren, die Verkäuferin. Wie ist das mit dem Ruf als Öko-Hauptstadt, trägt Gent den zu Recht? Absolut, findet sie. „Man ist hier wirklich sehr bemüht, grüner zu sein“. All die Fahrradfahrer im Zentrum, genau wie sie selbst übrigens, die „alles mit dem Rad macht“. Aber auch, was das Vermeidung von Plastik betrifft, denn das Zero-Waste-Konzept spreche immer mehr Menschen an. Besonders gut verkauften sich Nüsse, Haferflocken und Müsli. Und wer kommt hierhin, ins ‚Ohne?‘ „Vor allem junge Familien und Studenten.“

Nun ist das mit der ökologischen Ambition schichtenspezifisch, auch hier. Und das wiederum treibt Tine Heyse ganz schön um. Sie ist eine der drei grünen Dezernenten in Gent, und gemeinsam mit ihrem Kollegen Filip Watteeuw das am längsten amtierende Ratsmitglied der Partei. 2000 wurden sie gewählt. Heyse hat die Portfolios Umwelt, Klima, Energie und Nord-Süd. Watteeuw ist für Mobilität und Infrastruktur zuständig. Im hinteren Teil des verwinkelten Rathauses sitzen die beiden Haudegen, und Tine Heyse muss direkt etwas klarstellen: „Ich mache keine Politik für die Happy Few! Wenn man Nachhaltigkeit will, geht das nicht ohne den sozialen Aspekt.“

Tine Heyse, grüne Stadt-Dezernentin

„Ich mache keine Politik für die Happy Few! Wenn man Nachhaltigkeit will, geht das nur sozial“

Heyse kann einige Beispiele aus ihrer Praxis vorweisen: Da gibt es nach Einkommen gestaffelte Prämien für Personen, die ihre Wohnungen energiesparend umbauen. „Es macht keinen Sinn, wenn man in Sozialwohnungen wenig Miete zahlt, aber hohe Energiekosten hat“, sagt sie. Zuleibe rücken Tine Heyse und ihr Kabinett auch den Essensüberschüssen: Lebensmittel nahe am Haltbarkeitsdatum werden in Geschäften eingesammelt und mithilfe sozialer Organisationen an bedürftige Bürger verteilt. „Das läuft auf 300 Tonnen jährlich hinaus, mit besonderem Gewicht auf Obst, Gemüse und gesunde Nahrung, wovon es bei der Tafel sonst nicht so viel gibt.“

Anmeldegebühren fürs Carsharing übernimmt die Stadt

Auch Kollege Watteeuw kann aus dem Nähkästchen plaudern. So bezuschusst die Stadt Carsharing- Unternehmen, erstattet Nutzern die Anmeldegebühren und hat die Zahl der exklusiven Parkplätze von 150 auf 300 verdoppelt. Für Watteuw hat dieser Beitrag zu besserer Luftqualität auch eine soziale Komponente: „Leute mit wenig Geld können sich dadurch doch ab und zu ein Auto leisten.“ Zu Beginn der Legislaturperiode teilten sich übrigens auch die drei grünen Amtsträger einen Dienstwagen, der eigentlich jedem von ihnen zusteht. Vor zwei Jahren haben sie ihn ganz abgeschafft.

Tine Heyse und Filip Watteeuw verkörpern die Entwicklung von Gent hin zu der Stadt, die man heute kennt. Als die belgischen Grünen in den Achtzigern aufkamen, zogen sie aus der Peripherie in eine Stadt, die, so Watteeuw, „schön, aber verarmt“ war. Beide waren in ihren Zwanzigern und in der alternativen Politikszene engagiert.

Früher waren Grüne brav, heute selbstbewusst

Den Austausch mit NGOs und ökologischen Initiativen finden beide bis heute wichtig. Essentiell dabei: „Der Respekt für die verschiedenen Rollen“, sagt Heyse. Watteeuw ergänzt: „Aspekte wie Machbarkeit und Zielsetzungen sind unterschiedlich. Eine NGO muss deutlichere Ziele haben. Wir müssen im politischen Prozess strategischer denken.“ Als eine der auffälligsten Veränderungen von 30 Jahren ökologischer Politik in Gent nennt Watteeuw Selbstverständnis und Auftreten: „Früher waren grüne Initiativen klein und brav. Heute sagen wir: ‚Dies ist der Weg, den wir gehen wollen!‘ Wir haben Rückhalt in der Bevölkerung dafür und gute Argumente, um noch mehr Menschen überzeugen.“

Derzeit hat Gent keinen Mangel an großen ökologischen Projekten. Im Gegenteil. In Tine Heyses Kabinett hat man das Ziel ausgegeben, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden. „Das bedeutet, weg von fossiler Energie, auch weg vom Erdgas zu kommen und dafür auf lokal erzeugte Energie zu setzen.“ 145 Millionen Euro investiert die Kommune in ihren fünfjährigen „Klimaplan“. Damit fördert man etwa erneuerbare Energie, nachhaltigen Neubau und eine energiespezifische Beratung von Bürgern bei Renovierungen. Daneben gibt es Energie-Coaching für Betriebe, und auch der Hafen soll nachhaltig werden. Zum zweiten Mal in Serie wurde Gent dafür im Sommer von der EU-Kommission zur „Green Capital“ nominiert, als Vorbild für andere Städte.

Was Filip Watteeuw betrifft, stellt sich die Sache etwas anders dar: Die einschneidenden Änderungen nämlich, die unter dem Namen „circulatieplan“ im Frühjahr 2017 eingeführt wurden, bescherten dem Mobilitäts-Amt nicht nur Lorbeeren, sondern auch erbitterte Diskussionen. Der Durchgangsverkehr durch das Zentrum wurde an drei neuralgischen Stellen unterbrochen und damit aus der Stadt verdrängt. Viele Unternehmer befürchteten drastische Umsatzverluste, die konservative Opposition warnte, Gent würde unerreichbar. Die Auseinandersetzung wurde mit harten Bandagen geführt und im Rest des Landes gespannt verfolgt.

Nicht nur Autofahrer protestieren

Die Proteste waren zahlreich: Die Facebook- Gruppe Protest Circulatieplan“ etwa lehnt das Projekt als „versäuerten, ideologisch inspirierten Anti-Auto-Plan“ ab. „Die Einführung von Bußgelder und das systematisch Abschaffen von Parkplätzen machen es Fahrern unmöglich, ihre Autos im Alltag zu benutzen“, sagt Peter De Brabander, ein entschiedener Gegner des Plans. Er selbst wohnt am Kleinen Ring, der die Stadt umgibt, etwa drei Kilometer außerhalb des Zentrums. Durch die Umstrukturierung des Verkehrs seien seine Wege nun länger, sagt De Brabander. Die zusätzlich zurückgelegten Kilometer von Tausenden Betroffenen sorgten just für erheblich mehr CO2- und Feinstoffausstoß. „Es ist kein ökologischer Plan“, steht für De Brabander darum fest. „Und sie ermorden Gent, weil viele Qualitäts-Geschäfte das Zentrum verlassen.“

Im Rathaus hingegen zieht man nach anderthalb Jahren ein positives Fazit. Messungen an 20 verschiedenen Stellen haben ergeben, dass der Stickstoffgehalt im Durchschnitt über sieben Mikrogramm pro Kubikmeter abgenommen hat. 12 Prozent weniger Autos gibt es in der Stadt, dafür 25 Prozent mehr Radfahrer. Die Mehrheit der Bewohner sei zufrieden mit dem Plan, während viele Einzelhändler noch immer über Einbußen klagten.

Trotzdem räumt man Verbesserungsbedarf ein: Auch den umliegenden Vierteln müsse man eine Lösung anbieten und dazu vor allem den Nahverkehr, bislang in einem Netz der Region Flandern geregelt, am liebsten in die eigenen Hände nehmen.

Entfernt man sich aus dem unmittelbaren Zentrum, bekommt man eine Idee davon, dass sich die Auseinandersetzung nicht in Schwarz-Weiß-Muster pressen lässt. In der Papegaaistraat, gerade einmal einen Kilometer westlich, hängen Plakate in den Fenstern: „Circulatieplan na klar, aber lasst uns nicht ersticken!“, steht darauf. Die Fotografin Sonny Plasschaert wohnt dort. Sie betont, nicht gegen den Plan an sich zu sein, doch der zugenommene Verkehr auf der Ausfallroute macht ihr Sorgen. „Neben Massen von Fahrrädern und Trams fahren jetzt auch Lastwagen und Touristenbusse hier entlang. Es ist gut, Autos aus der Stadt zu verbannen und das Zentrum lebenswerter zu machen, aber das darf nicht nur für Ausflügler und Touristen gelten.“

Beste Fritten, aber nicht in Rinderfett gebacken

Interessant ist die Papegaaistraat noch aus einem anderen Grund: Seit Jahren befindet sich hier eine der etabliertesten kulinarischen Adressen für Vegetarier und Veganer. Der Frietketel (Frittenkessel) wartet neben der Theke mit der Benelux-typischen Vitrine auf, in der Frittierware ausliegt – nur, dass man hier auch allerhand Fleischloses findet. Dazu gibt es hausgemachte vegane Spezialitäten: Walnuss-, Kürbis- oder Pestoburger oder den belgischen Klassiker: Fritten, die aber nicht im Rinderfett gebacken werden, mit Schmorfleisch aus Seitan. Geschmacklich ist Letzteres eine ziemlich ausbalancierte Sache. Man versteht hier fraglos das vegane Handwerk.

Der Frietketel mag ein Pionier sein, doch er hat inzwischen einiges an Gesellschaft bekommen. „Als Genter Restaurant kann man sich fast nicht erlauben, nichts Vegetarisches im Angebot zu haben“, sagt eine, die es wissen muss: Fien Lougawie, Community-Manager und eine von 13 Angestellten bei EVA, was für Ethisch – Vegetarisch – Alternativ steht und die wichtigste entsprechende Organisation in Belgien ist. Im Veggiehuis genannten Hauptquartier liegen noch die Kochbücher der „Donnerstag Veggietag“-Kampagne aus, mit der EVA vor neun Jahren bekannt wurde. Nicht nur in Belgien, auch international schlossen sich viele Städte dem Appell an, in öffentlichen Einrichtungen ein fleischloses Hauptgericht zu Mittag anzubieten.

Aktuell bereitet man im Veggiehuis eine neue Kampagne namens Be vegan vor: Interessierte können im Oktober Informationen und Begleitung während eines veganen Probemonats finden. Daneben richtet man Workshops zu gesundem und nachhaltigem Kochen an Schulen aus, gemeinsam mit der Stadtverwaltung. Auf die ist man bei EVA entsprechend gut zu sprechen. „Wir bekamen schon bei „Donnerstag Veggietag“ viel Unterstützung, und das Rathaus machte Werbung für die Kampagne. Was besonders wichtig ist, weil das Ganze auf Freiwilligkeit beruhen soll, nicht auf Verboten.“

Fien Lougawie hat 17 ihrer 28 Lebensjahre vegetarisch bestritten. In Gent zählt sie damit zu einer Gruppe von sechs Prozent der Bevölkerung. Als vegan bezeichnet sich nur ein Prozent. Damit liegt man deutlich hinter Brüssel (vier Prozent vegan, sieben vegetarisch). Trotzdem ist Gent der Ort, an dem Fien Lougawie sich zu Hause fühlt. Auch sie kam zum Studieren hierher, aus dem benachbarten Westflandern, wie so viele Zugezogene. „Für mich bedeutete Gent Freiheit, neue Ideen und das tun zu können, was ich will.“

Das Erfolgsproblem: Gent wird immer teurer

Langsam aber zeigt sich in der Stadt auch die Schattenseite dieses Images: „Gent ist ein Opfer der eigenen Popularität geworden. Wohnen ist inzwischen fast unbezahlbar“ – so drückt Iris Verschaeve das aus, auch sie Einwanderin aus Westflandern und Öko-Aktivistin. Verschaeve arbeitet bei der Gents Milieufront, der Speerspitze der lokalen Umweltbewegung. Von ihrem spärlichen Einkommen geht immer mehr für die Miete drauf. Eine Wohnung zu kaufen, das könnten sich nur noch Doppel- oder Großverdiener leisten. „Bei den Kommunalwahlen wird Wohnen darum ein entscheidendes Thema werden.“

Iris Verschaeve verbringt ihre Mittagspause mit einigen Kollegen in einem Café in der autofreien Zone im Zentrum. Die Unterstützung des circulatieplan war zuletzt eins der wichtigen Themen der „Umweltfront“. Daneben standen eine Kampagne für Wasserqualität, und die „Vorgartenbrigade“, die, mit kommunalem Budget ausgestattet, gratis Gärten für Bürger anlegt: 250 sind es bislang, 700 sollen es noch werden.

In der Regel, sagt Iris Verschaeve, arbeite man gut mit der links dominierten Stadtregierung zusammen. Letzten Winter allerdings stellten die Aktivisten in ihrer Zeitschrift ein durchwachsenes Zeugnis aus: zu langsam gehe der Prozess voran, zu viele Initiativen müssten noch umgesetzt werden.

Als besonders kritischer Geist entpuppt sich Steven Geirnaert, Sprecher und Koordinator der Organisation. „Wir dürfen nicht so dumm sein, selbstzufrieden zu werden. Und wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass wir in einer Blase leben. Unsere Initiativen in der Stadt sind wichtig, aber 15 Kilometer außerhalb steht ein Stahlwerk von ArcelorMittal. Global stehen alle Umwelt-Indikatoren auf Rot. Wenn wir weiter durch die Gegend fliegen, löst es keine Probleme, dass wir in Gent mit Papier-Trinkhalmen trinken.“

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