Belgische Choreografin über das Tanzen: „Es fordert die Schwerkraft heraus“

Die Berliner Volksbühne zeigt die „Brandenburgischen Konzerte“ mit Musik von Bach und mehr als 36 Menschen live auf der Bühne. Ein Gespräch mit der Choreografin.

Eine Frau im grauen T-Shirt lehnt an einer grauen Wand

Die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker Foto: Anne Van Aerschot

taz: Guten Morgen, Frau De Keersmaeker. Haben Sie heute Morgen schon getanzt?

Anne Teresa De Keersmaeker: Nein.

Wenn man Ihre Stücke sieht, begegnet einem so viel Anmut, Leichtigkeit und Großzügigkeit, das ist erstaunlich. Und man fragt sich: Woher kommt diese Energie?

Ich mag es zu tanzen und ich mag es zu arbeiten. Es gibt so etwas wie Arbeitsfreude. Zu tanzen ist meine Art, in der Welt zu sein, zu denken, zu atmen, zu leben. Ich selbst sehe mich sogar mehr als Tänzerin denn als Choreografin.

In Berlin konnte man oft Gastspiele von Ihnen erleben, im Hebbel-Theater oder im Haus der Berliner Festspiele. Jetzt zeigen Sie zum ersten Mal eine Uraufführung an der Volksbühne.

Es ist das erste Mal, dass mir ein Berliner Theater eine Koproduktion angeboten hat. Es ist der zweite Schritt einer Kooperation, die die Volksbühne initiiert hat, im Frühjahr haben wir „Work/Travail/Arbeidt“ und „Vortex Temporum“ gezeigt. Die lange Liste der Gastspiele in Berlin seit Ende der achtziger Jahre wurde in der Hauptsache von Nele Hertling und später von Annemie Vanackere am Hebbel-­Theater angestoßen. Aber die Bühne dort brachte auch das Problem, zu klein zu sein für manche unserer Produktionen.

kam 1960 in Mechelen in Belgien zur Welt, der Vater war Bauer, die Mutter Lehrerin. 1983 gründete sie ihre schon bald berühmte Company „Rosas“. Sie touren weltweit. 1995 folgte in Brüssel P.A.R.T.S., ein wichtiges Ausbildungszentrum, deren Leiterin sie ist.

„Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ werden ab 12. September in der Berliner Volksbühne gezeigt, mit 16 TänzerInnen und mehr als 20 MusikerInnen live auf der Bühne.

2017 haben Sie an „Fous de danse“ teilgenommen, der großen Eröffnung der ersten Spielzeit unter dem Intendanten Chris Dercon auf dem Tempelhofer Feld. In der Zwischenzeit hat die Volksbühne viele Erschütterungen erlebt, Chris Dercon und Marietta Piekenbrock mussten gehen. Hat das Ihre Arbeit belastet?

Nein, unsere Vereinbarung wurde ja beibehalten. Aber ich bedauere tief, wie die Ereignisse hier gelaufen sind. Aber ich bin nicht in der Position, darüber zu urteilen. Das ist Teil einer größeren Frage, was die Volksbühne heute für Berlin sein soll.

Am 12. September wird die Premiere der „Brandenburgischen Konzerte“ in der Volksbühne sein. Es ist Ihre fünfte Arbeit mit einer Komposition von J. S. Bach, Ihre Beziehung zu ihm wurde schon als ein Pas de deux mit Bach bezeichnet. Auf der Bühne wird das B’ Rock Orchestra die Konzerte spielen. Was macht gerade diesen Komponisten so wichtig für Sie?

Johann Sebastian Bach ist einzigartig in der Geschichte der westlichen Musik. Ich liebe den Tanz, weil ich ihn für die direkteste Form von verkörperter Abstraktion halte und das ist auch Bachs Musik. Es ist eine Musik, die Klarheit ausstrahlt, in der ganzen Struktur und im Detail ist sie immer extrem rhetorisch. Die Musik wirkt wie eine bewegte Architektur. Es ist wie eine Berührung mit der Unendlichkeit. Bachs Musik ist immer extrem strukturiert, aber nie systematisch. Sie ist äußerst formalisiert und reflektiert zugleich viele Aspekte der menschlichen Erfahrung. Wie Freude, Zorn, Melancholie und Rache. Für mich war das immer eine direkte Einladung zum Tanz.

Wenn Sie über die Qualitäten von Bachs Musik reden, wie Klarheit in der Struktur, denken Sie, dass das Eigenschaften sind, die uns heute abgehen? Was können wir von seiner Musik lernen?

Bachs Musik reflektiert das Bewusstsein einer anderen Ordnung, die über unsere Wahrnehmung der Dinge hinausgeht. Ich denke, dass selbst Bachs nichtreligiöse, weltliche Musik, wie die „Brandenburgischen Konzerte“, die er in Köthen schrieb, eine tiefe spirituelle Dimension hat.

Sie arbeiten in Ihren Stücken oft mit Zeichnungen von geometrischen Figuren auf dem Bühnenboden, die den Tänzern Wege vorzeichnen. Warum sind Sie der Geometrie so verbunden?

Geometrie hat eine lange Geschichte, sie beginnt damit, die Erde zu vermessen. Seit ich vor 36 Jahren „Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich“ choreografiert habe, eine sehr repetitive Minimal Music, denke ich, dass die Musik der Zeit einen Rahmen gibt, und ich brauche einen Rahmen, wie ich den Raum organisiere. Die Musik hat Muster, so brauchte ich ein räumliches Muster, das mir sagt, wohin es geht. Sich zu drehen war für mich die natürlichste Art zu tanzen. Der Kreis, den ich damals nutzte, ist zugleich die offenste und die geschlossenste Form. Menschen bilden einen Kreis, wenn sie etwas beobachten wollen. Man sitzt im Kreis um ein Feuer. Jeder hat die gleiche Distanz zum Mittelpunkt, es ist eine demokratische Form. Und im Kreis zu tanzen, hat viel mit Kontinuität und Dauer zu tun. Auf einer Linie kommt man zu einem Punkt, an dem man umkehren muss.

Aber auch die Spirale taucht sehr oft bei Ihnen auf.

Das ist auch eine äußerst basale Form. Sie erlaubt viele Ankerpunkte, im Zentrum, an der Grenze, im Raum dazwischen. Geometrische Muster zu betonen, hat mir von Anfang an geholfen, den Raum zu organisieren. Und Geometrie ist überall präsent, in der Natur, Kultur, Architektur, von Stonehenge über die gotischen Kathedralen bis zum Werk von Le Corbusier. Wir malen eine Spirale am Strand in den Sand, sie ist in der Galaxis und taucht schon in der prähellenistischen Vasenmalerei auf.

Aber hat Geometrie auch mit dem Körper zu tun?

Natürlich, es geht um Proportionen. Wenn man mit dem Körper arbeitet, geht es auch grundsätzlich um Proportionen, wie zum Beispiel zwischen der Hand und dem Arm.

Also ist Geometrie etwas Verbindendes?

Ja, zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos.

Wenn Sie über Ihre Arbeit reden, klingt das oft sehr analytisch, wissenschaftlich und logisch. Aber das Publikum erlebt während der Aufführungen oft etwas Erleichterndes, als würde eine Last von einem genommen, der Geist befreit. Ist das ein Effekt, den Sie kalkulieren?

Nein, so gehe ich das nicht an. Aber ich suche einen Weg zur Schönheit, zur Harmonie, zum Trost. Und ich denke, das alles liegt in der Musik von Bach. Sie reflektiert eine Ordnung, die über uns hinausgeht und die uns bewusst macht, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Aber sie enthält auch ein generöses Bewusstsein von menschlichem Mitgefühl. Wir sind Sterbliche, die Musik ist sehr menschlich und sehr abstrakt.

Sie beginnen oft mit Bewegungen, die suggerieren, es wäre einfach, sie nachzuahmen. Von dort aus geht es meist zu sehr komplexen Formen. Meinen Sie das auch als Modell für soziale Organisation?

Eine gute Frage. Ich arbeite mit Schichten, beginne mit dem Einfachsten, lege Schicht für Schicht, bis zum Komplexen. Am Anfang steht die Idee der Einheit, dann kommt Polarität hinein, den Raum öffnen und schließen, schnell und langsam sein, Dunkelheit und Licht. Dann kommt Schicht um Schicht, zwischen etwas geschehen zu machen und etwas geschehen zu lassen.

In den „Brandenburgische Konzerten“ wird das Gehen eine Rolle spielen. Was bedeutet Gehen für Sie?

Es ist die Basis der menschlichen Bewegung, wir haben eine vertikale Aufrichtung des Skeletts und zwei Füße. (Steht auf und geht durch den kleinen Raum.) Es ist die Verbindung zur Erde. Gehen hat mit der Schwerkraft zu tun. Man kann tanzen auch sehen als den Versuch, die Schwerkraft herauszufordern. Gehen organisiert auch meine Zeit. Es ist die einfachste Weise, mein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu organisieren.

Die lange Geschichte Ihrer Company ist gespeichert in deren Repertoire. Wie umfänglich ist das und wie halten Sie es lebendig?

Das sind um die 50 Stücke. Vor zwei Jahren haben wir begonnen, mit jungen Tänzern Choreografien aus verschiedenen Zeiten wieder einzustudieren. Wir arbeiten nun auf parallelen Spuren: neue Stücke zu entwerfen und Produktionen aus dem Repertoire zurückzubringen. In zwei Wochen geht es wieder los mit „Fase“, und wir haben schon „Rosas danst Rosas“, „Achterland“, „Rain“, „A Love Supreme“, „Verklärte Nacht“ und „Zeitigung“ wieder auf die Bühne gebracht.

„Fase“ und „Rosas danst Rosas“ sind zwei legendäre Produktionen in der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes. Es geschieht nicht oft, dass eine Company Choreografien, die 20 bis 30 Jahre zuvor entstanden sind, wieder aufführen kann. Mussten Sie für die finanziellen Möglichkeiten kämpfen?

Dafür müssen wir sehr hart arbeiten. Eigentlich haben wir nicht das Geld dafür. So war der einzige Weg, sehr viele Aufführungen zu zeigen und Co-Produzenten zu finden. In diesem Zusammenhang hat uns das Co-Produktions-Angebot der Volksbühne sehr geholfen.

Frau De Keersmaeker, ich denke Sie mir als einen glücklichen Menschen. Weil Sie das machen, was Sie machen ­wollen.

(Zweifelt …) Das stimmt … Ich tanze sehr, sehr gern. Seit ich acht Jahre alt war, tanze ich, das ist 50 Jahre her. Es geht um eine natürliche Kommunikation in einem Leben, in dem so vieles delegiert wird an Maschinen. Tanzen ist immer noch das Einfachste, Natürlichste, was der Körper kann.

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