Analyse Männer in Ostdeutschland: Der marode Mann

Der ostdeutsche Mann ist aggressiv, rechts und rassistisch? So einfach ist es nicht. Wer ihn verstehen will, muss in die Vergangenheit blicken.

Ein schwarz-weiß-Foto: Mehrere Männer stehen mit Kindern an einem Stand mit der Aufschrift "Solidaritäts-Tombola"

In der DDR war Solidarität eine Pflicht und keine Herzensangelegenheit Foto: Imago/Bernd Friedel

Was ist nur mit dem ostdeutschen Mann los? Angesichts der Ereignisse wie in Chemnitz, Freital, Köthen könnte man ihn auf Zuschreibungen zusammenschnurren wie: rechts, populistisch, aggressiv, fremdenfeindlich. Diese These scheint sich durch das Integrationsbarometer, das der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration gerade veröffentlicht hat, zu bestätigen. Stimmt das so?

Es gibt nicht „die“ und keine einfache Erklärung. Vielmehr handelt es sich bei dem ostdeutschen Mann, der sich in Chemnitz, Freital, Köthen auf fragwürdige Weise entäußert, um den maroden Mann, den machtlosen, aggressiven, rechten ostdeutschen Mann. Wer den verstehen will, muss diesen einen berühmten Blick in die Vergangenheit werfen. Denn der marode Mann ist nicht nur ein Individuum, das für seine Gesinnung und sein Tun selbstredend die Verantwortung zu übernehmen hat. Sondern auch ein Produkt zahlreicher historischer, sozialer und regionaler Ereignisse und Besonderheiten.

Nach der Wende hat der marode Mann einiges einstecken müssen. So musste er zugucken, wie die jungen Frauen und Mädchen, die in der Schule schon besser waren als er, ihre Sachen packten, in den Westen zogen und Westmänner heirateten. Der Osten dünnte aus, der marode Mann indes blieb verlassen zurück. Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung schrumpft der Osten immer noch, vor allem auf dem Land. 2016 wanderten aus der Peripherie mehr Menschen ab als dort geboren wurden. Und nach wie vor gehen vor allem Frauen.

Das macht den maroden Mann sauer, er fühlt sich benachteiligt: als Dörfler gegenüber den Städtern, als Ostdeutscher gegenüber den Westdeutschen. Diese gefühlten wie realen Vernachlässigungen machen ihm Angst. Er fürchtet nicht nur, bis an sein Lebensende allein zu bleiben. Seit einiger Zeit fürchtet er zudem die männlichen migrantischen Zuwanderer. Männer! Von denen hat er gehört, dass sie sehr viril und aktiv sein sollen. Er kann das alles zwar nicht überprüfen, weil er auf der Straße nur wenige von ihnen trifft. Und er hat schon gar keinen Kontakt zu ihnen. Aber sich an diesem Glauben festzuhalten, bietet ihm Selbstschutz.

Das Versprechen der „blühenden Landschaften“

Und warum sollte ausgerechnet er „dem Fremden“ helfen und solidarisch sein? Solidarität fand er in der DDR schon lästig. Solidarität war staatlich verordnet, eine Pflicht und keine Herzensangelegenheit. Er erinnert sich noch gut an die Poster über dem Waschbecken im Klassenraum: Ein vietnamesisches Mädchen mit einem Strohhut schaut ihn ängstlich an, darüber steht „Solidarität hilft siegen“. Oder das Plakat mit einer Mutter und deren Sohn, hinter ihnen eine US-Flagge, vor ihnen der Appell: „USA, Hände weg von Nicaragua und El Salvador“.

Was war der marode Mann froh, das alles hinter sich lassen zu können. Und jetzt kommt der Staat, der ihm mal „blühende Landschaften“ versprochen hat, und will, dass er wieder solidarisch ist?

Überhaupt der Staat. Dem hat der marode Mann noch nie vertraut. Damals in der DDR nicht, wo man selbst gegenüber dem Nachbarn besser verschwiegen war. Heute kann der marode Mann zwar sagen, was er denkt, der Staat nimmt fast nichts krumm. Aber das Westpaket, das riecht schon lange nicht mehr so gut wie in der Erinnerung des maroden Mannes.

Druck ablassen am Stammtisch

Der marode Mann hasst Umbrüche. Davon hatte er genug: Land fort, Job futsch, Frau weg. Wenn jetzt schon wieder alles anders wird, so wie das die AfD erzählt und wie das Pegida in die Straßen brüllt, dann ist mal Schluss mit lustig. Nein, noch einen Umsturz will der marode Mann nicht erleben.

Dann doch lieber die AfD wählen und gegen „die Ausländer“ hetzen. Früher standen „der Ami“ und „der Russe“ vor der Tür, heute „der Afghane“ und „der Afrikaner“.

Den Druck muss der marode Mann auch mal ablassen. Das kann er gut am Stammtisch. Manchmal geht ihm das ganz heftige fremdenfeindliche Gequatsche auch auf die Nerven. Aber was soll er machen? Der Stammtisch ist nun mal seine Peer Group. Die gibt dem maroden Mann so etwas wie Heimatgefühl.

Doch es gibt leise Hoffnung: Der marode Mann ist – das hat das Integrationsbarometer ebenfalls herausgefunden – in der Minderheit. Es ist nicht alles so marode, wie es auf den ersten Blick scheint.

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Ressortleiterin taz.de / Regie. Zuvor Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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