Ostbeauftragter über neue Bundesländer: „Inmitten des ostdeutschen '68“

Christian Hirte ist Bundesbeauftragter für die neuen Länder. Er spricht über gefühlte Einheit und darüber, warum der Osten keine „Wahrheits­kommission“ braucht.

Der Berliner Dom von der Spree aus gesehen im Nebel

Wie viel Ost und West steckt noch in der Bundesrepublik? Foto: Unsplash/Björn Grochla

taz: Herr Hirte, Sie sind Jahrgang 1976, waren also 13 Jahre alt, als die Mauer fiel. Was prädestiniert Sie für das Amt des Bundesbeauftragten für die neuen Bundesländer?

Christian Hirte: Ich habe noch als Kind und Jugendlicher die Endphase der DDR erlebt. Ich komme aus dem westlichsten Wahlkreis der neuen Bundesländer, habe später einen Teil meiner beruflichen Laufbahn im Westen verbracht. Insofern bin ich wohl ein neuer Typus des Ostbeauftragten: Ich kenne beide Teile.

Wie neu sind diese „neuen Länder“ nach fast dreißig Jahren noch? Schlägt sich nicht allein in der Bezeichnung ein Wir und ein Die nieder?

Die Frage ist berechtigt. Es ist eine historisch entstandene Bezeichnung, aber man könnte ernsthaft darüber nachdenken, ob die noch angemessen ist.

Haben Sie einen Vorschlag?

„Ostbeauftragter“ ist zumindest sprachlich einfacher als „Beauftragter für die neuen Bundesländer“. Andererseits liegt Erfurt westlicher als München. Wichtiger als der Titel ist am Ende, dass wir die Themen des Ostens ernst nehmen.

Sie sind in den Nullerjahren nach Ihrem Jurastudium in den Westen rübergemacht. Haben Sie Verständnis für die jungen Leute, vor allem Frauen, die den Osten verlassen?

Ich habe in Hessen gearbeitet, aber immer in Thüringen gewohnt. Insofern war ich einer der vielen tausend Tagespendler. Die Lage in diesen Jahren war für Berufsanfänger ja in ganz Deutschland völlig anders als heute. Bestimmte Jobs gab es gerade im Osten kaum, mit dem Ende der maroden Kombinatswirtschaft waren vielerorts die Strukturen weg. Wenn man in seinem Beruf weiter arbeiten wollte, blieb einem in aller Regel nichts anderes übrig, als in den Westen zu gehen. Gesamtgesellschaftlich war das ja besser als eine noch höhere Arbeitslosigkeit. Aber die Konsequenzen sind für die Regionen bis heute natürlich schmerzhaft.

Wie ist denn in „den Regionen“ die Lage?

Die Situation hat sich glücklicherweise geändert. Arbeitslosigkeit ist in weiten Teilen des Ostens kaum noch ein Problem. Die meisten finden in ihrer Heimat einen Job. Aber zur Wahrheit gehört, dass ganz bestimmte spezialisierte Jobs nach wie vor gerade in den ländlichen Regionen, von denen es im Osten viele gibt, Mangelware sind. Das sind auch die Jobs mit den sehr hohen Löhnen. Im Osten fehlen die großen etablierten Global Player. Da sind wir schlecht aufgestellt und das bleiben wir auch perspektivisch.

In Ihrem gerade vorgelegten Bericht zum Stand der deutschen Einheit stellen Sie fest, dass „viele Menschen im Osten sich als Bürger zweiter Klasse, als abgehängt“ verstehen. Auch wenn es aufwärtsgeht im Osten – die können ja nicht alle falsch liegen, oder?

Objektiv war die wirtschaftliche Lage nie besser als aktuell. Die Arbeitslosigkeit ist dramatisch gesunken. Die Löhne haben sich überproportional entwickelt, auch die Renten und die Lebensbedingungen. Aber es gibt die berechtigte Wahrnehmung, dass es nach wie vor Unterschiede gibt, etwa bei den Gehältern. Die steigen im Osten weiter, aber auch im Westen bleibt die Entwicklung ja nicht stehen. Es ist also auch eine Frage des Maßstabs. Im Grunde könnte man sagen: Seien wir froh, dass es im ganzen Land aufwärtsgeht, in West und Ost.

Das sind die Statistiken. Was ist mit dem Gefühl der Zweitklassigkeit?

Das ist ein Punkt, der nicht nur mit der unterschiedlichen Geschichte vor dem Fall der Mauer zu erklären ist. Das hat auch zu tun mit dem, was nach 1989 passiert ist, mit dem kompletten Zusammenbruch, den die DDR-Bürger erleben mussten, die mit großer Euphorie in die deutsche Einheit gestartet sind. All die Brüche in den Lebensläufen, in den beruflichen Perspektiven – das wird jetzt spürbar, wenn es um die Rente geht. Daran gibt es berechtigte Kritik. Margaret Thatcher hat angeblich mal gesagt: Alle 30 Jahre wollen die Menschen etwas völlig Neues, bricht sich etwas Bahn. Seit 1990 sind wir eine Generation weiter. Es ist, glaube ich, kein Zufall, dass genau mit diesem Abstand Fragen auftauchen, was damals eigentlich mit uns geschehen ist. Zeitlich eingeordnet sind wir inmitten des ostdeutschen „68“.

Gerade hat die Bundesregierung die „Kommission gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter dem Dach des Innenministeriums gebildet. Was wären denn gleichwertige Lebensverhältnisse?

Schon der Name der Kommission signalisiert, dass es nicht um Gleichheit geht. Sondern darum, dass man am Ende im ganzen Land gute Lebensverhältnisse schafft. Es gehört zur Prägung der Bundesrepublik, dass sie regional unterschiedlich ist. Das ist nichts Schlimmes. Entscheidend ist, dass keine Region, kein Mensch abgehängt wird. Die Kommission will erreichen, dass man in der Fläche gute Lebensverhältnisse schafft. Das wird uns im Osten gelingen.

42, ist seit März parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und zugleich Ostbeauftragter der Bundesregierung.

Der jährliche Bericht zur deutschen Einheit ist so erhellend wie ermüdend. Wie könnte echtes Interesse der Westdeutschen am Osten entstehen? Müssen immer erst Nazis marodieren?

Ich bezweifle, dass es unser drängendstes Anliegen sein muss, dass das ganze Land ständig einen besonderen Fokus auf den Osten richtet. Auch viele Bayern sind nicht brennend interessiert an Schleswig-Holstein.

Wozu braucht es dann also einen Ostbeauftragten?

Es gibt ihn, damit die Politik die strukturellen Unterschiede und Herausforderungen besonders aufmerksam in den Blick nimmt und sich darum kümmert. Und das machen wir. Wir haben mit gigantischen Mil­liardenbeträgen ganz viel getan, etwa bei den Verkehrsprojekten deutsche Einheit, bei den Renten, den Forschungsinvestitionen. Wir sind im Osten inzwischen auf einem wirtschaftlichen Niveau, das sich mit den meisten Regionen in West­europa messen kann. Das ist ein großer Erfolg, den man nicht kleinreden sollte.

Das sind die Zahlen. Aber was ist mit echtem Interesse für den Osten, mit Augenhöhe?

Das Interesse ist in der Politik vorhanden. Wenn Sie sich den Koalitionsvertrag anschauen, werden Sie feststellen, dass der sich in einer Intensität der neuen Bundesländer annimmt wie selten zuvor. In dieser Koalition liegt ein klarer Fokus auf der Situation dort. Sowohl was die Wirtschaftspolitik angeht als auch die soziokulturellen Unterschiede.

Den Eindruck zu erwecken, dass staatlich organisierte Verbrechen im Osten verübt wurden, finde ich daneben

Was halten Sie vom Vorschlag des SPD-Ostbeauftragten Martin Dulig, eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Nachwendezeit einzurichten?

Die Wortwahl finde ich völlig inakzeptabel. Ostdeutschland ist nicht Südafrika oder Ruanda. Dass man sich mit der Situation nach 1990 noch mal intensiver beschäftigen muss, daran besteht kein Zweifel. Das müssen wir nicht alles staatlich organisieren, denn diese Beschäftigung passiert ja schon und wird sich fortsetzen. Ich werde mich unter anderem in einer Studie mit der Arbeit der Treuhand auseinandersetzen. Wir müssen gucken, was dort genau passiert ist, welche Fehlentwicklungen stattgefunden haben. Wir müssen den Bürgern signalisieren, dass wir ernst nehmen, was damals schiefgegangen ist. Aber mit einer „Wahrheitskommission“ den Eindruck zu erwecken, dass quasi staatlich organisierte Verbrechen im Osten verübt wurden, das finde ich daneben. Wir achten ja in unserem Land sonst penibel genau auf den politisch korrekten Umgang mit Sprache. Auch deshalb finde ich die Leichtfertigkeit, mit der hier bewusst überzogen wird, unangemessen.

Die Treuhand und der Einigungsvertrag stehen bis heute symbolisch für die Übernahme des Ostens durch den Westen. Den unzufriedenen Ostdeutschen immer nur zu sagen, dass sie froh sein sollen, dass es die DDR nicht mehr gibt – reicht das heute noch?

Das reicht weder heute noch hat es 1990 gereicht. Der Historiker Marcus Böick hat für die Treuhand den Begriff einer „erinnerungspolitischen Bad Bank“ geprägt: Was nicht gut gelaufen ist, wird auf diese Institution projiziert. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man im Westen auf die konkrete Situation der Wiedervereinigung nicht vorbereitet war und sie teilweise falsch eingeschätzt hat. Insgesamt war das ein gewaltiges Zuschussgeschäft. Trotzdem sollte man den Ostdeutschen nicht sagen: Jetzt seid mal zufrieden, ihr kriegt immerhin unsere Hilfe. Das kann nicht der Anspruch sein. Wir müssen in staatlichem Handeln ausdrücken, dass wir den Osten wahrnehmen. Und das tut diese Bundesregierung.

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