Kolumne Habibitus: Deutschland im Herbst

Die Zahl der rassistischen Gewalttaten ist nach Chemnitz gestiegen, Waffen verschwinden, eine Leiche taucht auf. Wird niemand hellhörig?

Kürbisernte auf einem Feld

Deutschen Tugenden: Kürbissuppe im Herbst. Und: systematisches Von-Nichts-Gewusst-Haben Foto: dpa

Der Herbst klingelt Sturm und die ersten Selfies mit Pumpkin Spiced Latte in der Hand fliegen wie Laub durch meine Timelines. Deutsche Herbst­traditionen sind jedoch nicht nur ausgehöhlte Kürbisse oder 23 Rezepte für einfallsreiche Eintöpfe, sondern auch das systematische Von-nichts-gewusst-Haben, während rassistische und antisemitische Gewalt im ganzen Land begangen wird. Der einzige Topf, an dem dabei kollektiv gerührt wird, ist eine braune Suppe, angereichert mit rechter Propaganda und Hass. Sturmwarnung als Alltag: Der kälteste aller Winde weht von rechts.

Opferverbände haben allein im ersten Monat nach den Pogromen von Chemnitz 93 rechte Übergriffe in Deutschland gezählt: Angriffe mit Messer, Eisenketten, Baseballschlägern. Über die wenigsten von ihnen gab über die Lokalpresse und einem Abdruck dieser Sammlung in der ak 641 hinaus Berichte.

Am 17. September fand man im Raum Pforzheim die Leiche eines 47-jährigen Deutsch-Irakers, der durch zwei Schüsse in die Brust ermordet wurde. Wer die letzten sieben Jahre aufmerksam war, könnte eine Parallele zu den Taten des NSU ziehen, zumal jüngst die rechtsextreme Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“ aufgedeckt wurde. Davon lässt sich die lokale Polizei jedoch nicht blenden, sie ermittelt „ergebnisoffen in alle Richtungen“. Warum auch nicht.

Als hätte der Zufall es drauf angelegt, verschwand ein paar Kilometer weiter Ende August ein Jäger. Auch dessen Leiche tauchte nun auf. Was jedoch verschwunden bleibt: die 30 Waffen, die der Mann legal besaß. Könnte es vielleicht sein, dass jemand ihn gezielt ermordet hat, um an seine Gewehre zu kommen? Und könnte dieser jemand Teil jener Menschen sein, die schon länger ein Interesse daran haben, an Waffen zu kommen? Der deutsche Betreiber des Waffenshops „Migrantenschreck“ wurde im Frühjahr diesen Jahres gefasst. Bevor es dazu kam, versorgte er mindestens 198 Deutsche illegal mit Waffen.

Worauf die analyse & kritik ebenfalls auf ihrer Facebook-Seite hinwies: In Baden-Württemberg gibt es nicht nur ein aktives Neonazi-Netzwerk, von dem auch Uwe Mundlos schwärmte, sondern dort wurde auch die Polizistin Michèle Kiesewetter im Jahr 2007 vom NSU ermordet, 50 Kilometer von Pforzheim entfernt. Am 4. November 2011 flog der NSU auf.

Die afrodeutsche Dichterin May Ayim schrieb 1992 in ihrem Gedicht „deutschland im herbst“ über die Kontinuitäten von der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zu rechtsextremen Gewalttaten in den 1990ern: „deutschland im herbst, mir graut vor dem winter“.

Das ist 26 Jahre her, der Herbst läuft jedoch auf Repeat. Doch wir sollten uns trotzdem nicht den kalten Winden hingeben. Jeder Sturm kann von einem mächtigeren Orkan weggefegt werden. Slogans wie „unteilbar“ und „wir sind mehr“ sollten keine Metaphern bleiben.

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Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik an der Uni Freiburg und in Linköping. Heute arbeitet Yaghoobifarah als Autor_in, Redakteur_in und Referent_in zu Queerness, Feminismus, Antirassismus, Popkultur und Medienästhetik.

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