Aufarbeitung „Kentler-Experiment“: Lehren aus dem Gestern für das Heute

Senatorin Scheeres (SPD) verspricht weitere Aufarbeitung des „Experiments“, bei dem Ende der 60er Straßenkinder an Pädophile vermittelt wurden.

Dieses Präventionsprojekt gibt es schon: „Kein Täter werden“ richtet sich an Pädophile Foto: picture alliance / Bernd Wüstneck/dpa-Zentralbild/dpa

Lange hat es gedauert, bis die Hintergründe des sogenannten Kentler-Experiments aufgearbeitet wurden – doch jetzt, sagt Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Montagnachmittag, wolle man sich umso gründlicher in den Staub der Archive knien. Ein Forscherteam der Universität Hildesheim soll mit Fördergeldern der Berliner Jugendverwaltung herausfinden, wie das passieren konnte: Ende der 60er Jahre hatte der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler damit begonnen, Berliner Straßenkinder zur „Resozialisierung“ an pädophile Pflegeväter zu vermitteln.

Bis in die 90er Jahre hinein sollen Pflegekinder an Pädophile vermittelt worden sein. Und die Behörden? Taten zumindest nichts, womöglich beförderten sie sogar Kentlers Tun.

Das sollen die Hildesheimer Wissenschaftler um Wolfgang Schröer nun aufarbeiten: Welche Rolle spielten die damalige Berliner Jugendverwaltung und die Pflegekinderhilfe? Ein erstes, von Scheeres in Auftrag gegebenes Gutachten der Göttinger Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig hatte sich 2016 vor allem mit der Vernetzung Kentlers mit linksliberalen pädophilen Lobbygruppen auseinandergesetzt.

„Bisher gab es aber keine tiefere Auseinandersetzung mit den Organisationen, die das Kentler-Experiment ermöglichten“, sagte Julia Schröder aus dem Hildesheimer Forscherteam am Montag. Ein erstes Konzept, wie diese Aufarbeitung gelingen kann, soll dem Senat bis Ende November vorgelegt werden.

Wie war das möglich?

„Wir wollen fragen: Wie war das organisational möglich?“, sagte Schröer. Eine Schwierigkeit sei dabei die dürftige Quellenlage, betonte Kollegin Schröder. „Historisch gesehen ist die Pflegekinderhilfe eine Blackbox, da gab es lange kaum rechtliche Regelungen – vieles wurde mündlich vereinbart.“ Deshalb wolle man nun vermehrt Zeitzeugen, aber auch die Betroffenen selbst in die Aufarbeitung einbeziehen. Dabei stehe natürlich auch im Vordergrund, wie den Betroffenen durch die Aufarbeitung geholfen werden könne.

Drei Betroffene hätten sich nach der Veröffentlichung des ersten Gutachtens bisher gemeldet, sagte Scheeres. In der Verwaltung gebe es inzwischen auch einen Ansprechpartner für die „Kentler-Opfer“. Einer der Betroffenen wünsche keine weitere Hilfe. Für die anderen beiden habe man inzwischen Entschädigungszahlungen beim Fond der ehemaligen Heimkinder erwirkt.

Auch heutigen Pflegekindern soll die Aufarbeitung de Vergangenheit zugutekommen: Gerade in der Pflegekinderhilfe gebe es kaum Schutzkonzepte, „weil sie zwischen Familie und pädagogischer Einrichtung angesiedelt ist und durch die Raster fällt“. Dabei wisse man aus interna­tionalen Studien, dass Pflegekinder deutlich häufiger Opfer von sexueller Gewalt würden.

Deshalb erhoffe man sich auch Lehren aus dem Gestern fürs Heute, sagte Scheeres, „in Bezug auf Schutzkonzepte für Pflegefamilien“. In Berlin gibt es derzeit rund 2.700 Pflegekinder.

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