Parlamentswahl in Afghanistan: Nicht nur die Taliban als Problem

Wahlchaos, tödliche Gewalt und frisierte Zahlen: Die afghanische Parlamentswahl ist kurzfristig um einen Tag verlängert worden.

Ein Mann wird fotografiert

Biometrische Regristierung eines Wählers in Kabul Foto: reuters

KABUL taz | Momena* stand Samstagnachmittag vor ihrem Wahllokal im Norden Kabuls, ihr Mann mit einem Verwandten in der gesonderten Schlange für die Männer. Dann schlug eine Rakete ein, erzählt sie. Der Verwandte wurde an der Schulter verletzt, ihren Mann fegte der Druck des Einschlags von den Füßen. Momena stand geschützt hinter einer Ecke und kam mit dem Schrecken davon, der ihr am Tag drauf, als sie davon erzählt, immer noch ins Gesicht geschrieben steht. Die drei gingen in Deckung und dann lieber nicht mehr wählen.

Momenas Schwager war nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP einer von mindestens 300 Toten und Verletzten am Samstag, dem offiziellen Tag der dritten Parlamentswahl im Afghanistan der Nach-Taliban-Zeit. Das afghanische Innenministerium sprach nur von 71 Toten und Verletzten.

Die Taliban hatten angekündigt, „alle Hebel in Bewegung“ zu setzen, um diese „amerikanische Verschwörung“ zu unterbinden. Sie hielten dieses Versprechen weitgehend ein. In vielen Provinzen versperrten sie Straßen und selbst kleinere Nebenrouten und damit möglichen Wählern den Weg zu den Wahlurnen. Das geschah in ländlichen Gebieten, wo Wahllokale sowieso schon rar sind.

In Scheichabad, einer Kleinstadt in der Provinz Wardak, gleich südlich von Kabul, war am Wahlvorabend ein mutiger Kandidat, Sohn eines kleineren Warlords, aufgetaucht und hatte versucht, Wahlvorbereitungen zu treffen. Daraufhin tauchten Talibankämpfer auf und verjagten ihn mit Schüssen in die Luft. Am Samstag traute sich dort niemand mehr ins Wahllokal. Weiter südöstlich in Surmat, einem Distrikt in der Provinz und Talibanhochburg Paktia, postierten sich die Aufständischen gleich direkt vor den Wahllokalen und ließen keinen Wähler hinein. Nur im Distriktzentrum waren drei Lokale offen, die dann mit Raketen beschossen wurden.

Ihr Versprechen, Leben und Eigentum von Zivilisten zu schonen, hielten die Taliban also nicht ein, auch wenn nicht bei jedem der Bombenanschläge – am Samstag bis mittags allein 17 in Kabul – klar ist, wer ihn verübt hat. Neben den Taliban agiert in Afghanistan ein Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), der noch weniger Rücksicht auf Zivilisten nimmt.

Hausgemachtes Chaos

Auch in Kundus, wo früher die Bundeswehr stationiert war, landeten Samstagvormittag mehrere Geschosse im Stadtzentrum. Sie töteten mindestens drei Menschen, darunter zwei Wahlhelfer, und verletzten drei Dutzend weitere. Nicht weit vom Stadtzentrum überfielen Taliban ein Wahllokal und entführten Wahlhelfer. Auch in Kundus waren die meisten Menschen dann zu verängstigt, um wählen zu gehen.

Mariam Soleimankhail

„Ich bin um mein Stimmrecht betrogen worden“

Beim schwersten Anschlag an diesem Tag sprengte sich ein Mann am Abend in einem Wahllokal am nördlichen Stadtrand von Kabul in die Luft und tötete 14 Menschen, Polizisten und Zivilisten. Am Sonntag, dem kurzfristig angesetzten zweiten Wahltag, wurden bis zum frühen Nachmittag Ortszeit keine schweren Anschläge verzeichnet. Doch schlugen in Surmat wieder Raketen im Basar ein und verletzten mindestens fünf Menschen.

Aber nicht nur die Taliban haben für – erwartetes – Chaos gesorgt. Ein Großteil des Durcheinanders am Wahltag war hausgemacht. Vor vielen Wahllokalen bildeten sich lange Schlangen. Sie waren weniger das Resultat übergroßen Ansturms als schlampiger Organisation. Das Free and Fair Elections Forum of Afghanistan (Fefa), eine der größten unabhängigen Wahlbeobachtungsorganisationen des Landes, sagte, von den 1.000 Wahllokalen, die beobachtet wurden, hätten 150 zu spät geöffnet.

So warteten WählerInnen zum Teil viele Stunden trotz akuter Terrorgefahr und sporadischem Raketenbeschuss. Die Wahlkommission beschloss am Abend, dass Wahllokale, die doch nur am Vormittag geöffnet hatten, statt von 16 bis 20 Uhr offen zu sein, und jene, die erst am Nachmittag oder gar nicht öffneten, am Sonntag einen zweiten Versuch starten müssen. Samstagabend erklärte die Kommission, dass 401 Wahllokale in 14 Provinzen am Sonntag öffnen sollten.

7.000 Wahllokale gar nicht erst eingerichtet

Der taz liegt aber eine Liste einer multinationalen Organisation vor, der zufolge am Samstag tatsächlich 1.887 Wahllokale – über vier Mal so viele – aus Sicherheits- und Desorganisationsgründen geschlossen blieben. Dazu kommt, dass schon lange vor dem Wahltag 2.292 von ursprünglich geplanten 7.000 Wahllokalen gar nicht erst eingerichtet wurden, weil die Sicherheitskräfte sich nicht in der Lage sahen, sie zu schützen.

Angesichts dieser frisierten Zahlen ist auch die Angabe der Wahlkommission von Samstagabend mit äußerster Vorsicht zu genießen, dass sie bis dahin drei Millionen abgegebene Stimmen gezählt habe. Kommissionschef Abdul Badi Sajjad sagte sogar eine Gesamtwahlbeteiligung von fünf Millionen voraus.

Was in den in der Statistik der Kommission fehlenden 1.800 Wahllokalen genau geschieht, weiß niemand. Doch wahrscheinlich werden in viele Wahlurnen gefälschte Stimmzettel gefüllt, wie es bei der letzten Parlamentswahl 2010 massiv der Fall war. Auch jetzt liegen der taz schon erste Berichte solcher Vorfälle vor, nicht nur aus entlegeneren Provinzen wie Paktia und Sabul, sondern auch aus Kabul.

Ums Stimmrecht betrogen

Am Sonntag öffneten in Kabul wieder viele Wahllokale verspätet und es gab stundenlange Wartezeiten. Mariam So­leimankhail, eine Nichte des Präsidenten, stand erneut vergeblich an und beschwerte sich: „Ich bin um mein Stimmrecht betrogen worden.“ Wegen der gravierenden Mängel stellte Fefa bereits Samstagabend fest, dass die Wahlkommission „den Wahlprozess nicht mehr kon­trolliert“. Shaharzad Akbar, eine führende Zivilgesellschaftsaktivistin, die zeitweise für Präsident Aschraf Ghani gearbeitet hatte, fragte auf Twitter: „Wie sollen wir mit dieser Kommission eine Präsidentenwahl durchführen?“

Deren Termin ist mit dem 20. April 2019 bedrohlich nah. Schon im November sollen die Kandidaten dafür nominiert und überprüft werden. Während die Auszählung der einen Wahl also noch läuft, muss sich die unfähige Wahlkommission schon gleichzeitig um die zweite Wahl kümmern.

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