„König Lear“ in Hamburg: Shakespeare schwächelt

Das Schauspielhaus erstrahlt in neuem Glanz. „König Lear“, die Eröffnungsinszenierung von Intendantin Karin Beier, bleibt blass – bis kurz vorm Ende.

Nur Schatten ihrer selbst: Klar ist in Beiers „König Lear“ nur der Scherenschnittfilm des Geschehens auf den Bühnenwänden. Foto: Matthias Horn

HAMBURG taz | Ertüchtigend wurden Stahlträger eingezogen in die Ränge, damit sie dem Zuschauerboom standhalten. Und 1.700 Quadratmeter prächtiger, roter Flauschiteppich ausgelegt, Stuckateure renovierten den Zierrat, Metalloberflächen wurden neu auf alt poliert, Marmor und Mosaike gewienert, Maler weißten den Dreck der Jahrzehnte und ließen Stützpfeiler wieder gülden glänzen. All die puddeligen Leuchter und Treppenstufenilluminationen verrichten endlich mal einhellig ihren funzeligen Job. Und in den Nischen der neobarocken Architekturshow sind die total abgerockten Toiletteninstallationen komplett neu inszeniert.

Jetzt ist das denkmalgeschützte Deutsche Schauspielhaus wieder das größte Schmuckkästchen Hamburgs und die Verantwortlichen jubeln über die perfekte Dramaturgie: Sowohl die angesetzte Umbauzeit von fünfeinhalb Monaten als auch der Kostenplan von 4,7 Millionen Euro seien minutiös eingehalten worden. Und das mitten in Hamburg, nur zwei Kilometer entfernt von der Elbphilharmonie.

Aber natürlich gehört es zum Stil der Intendanz Karin Beiers, den Begeisterungstaumel nicht mit einer einfach nur schmucken Wiedereröffnungspremiere zu krönen. Mit ihrem herausfordernd politischen Kunstverständnis erzählt sie vom Zerbrechen der Welt. Alle Werte des sozialen Miteinanders, der humanisierende Glaube an eine höhere Instanz oder wenigstens an Familie oder Liebe haben sich als nicht lebensfähig erwiesen in der Saisoneröffnungsproduktion. Gewalt regiert und die Hybris der nach Macht strebenden Menschen hat sie dem Untergang geweiht.

Diese von Shakespeare im „König Lear“ deprimierend schön ausformulierte Zukunftsvision nimmt Beier als menetekelnden Blick auf unsere Welt. Nicht als Tragödie malt sie die Rutschpartie in den Abgrund aus, sondern verzerrt den epischen Fünfakter in einer offenen Spielanordnung mit Mitteln der Groteske, also das Grauen mit Komik. So wird für die berühmte Gewitterszene nicht die Illusionsmaschine angeworfen, sondern per Handtuch die Luft in Wallungen versetzt und der nackte Protagonist mit einem Gartenschlauch nassgespritzt.

Geistig verwuschelt

Derart radikalisiert Beier die lässig komische, pointiert aktualisierte Übersetzung des Bremers Rainer Iwersen. Wehrt sich also gegen die Düsternis. So bleibt ihr auch die Chance, auf das apokalyptische Stückfinale mit einer Wiederauferstehung antworten zu können.

Erst mal sieht aber alles aussichtslos aus. Mit tattriger Gestik und schlurfendem Gang schreitet der alte Patriarch Lear (Edgar Selge) noch mal sein Reich ab: ein schmuddelweiß dem Parkett entgegengekippter Kubus, der tür- also ausweglos ist. Lieblingstochter Cordelia versucht die verwuschelten Resthaare des auch geistig verwuschelten Königs in Form zu bürsten.

Der Krauskopf aber lässt sich nicht beirren, seine Vernunft ruhen zu lassen. Hüpft plötzlich wie um 30 Jahre verjüngt los und verfällt einer besonders schweren Form von Eitelkeit. Das Reich will er in drei gleichen Teilen seinem Töchtertrio vermachen, aber nicht einfach so. Für die Erbschaft sollen demütige Liebesbeweise dargebracht werden. Lear hockt da nun wie ein DSDS-Juror, während ihn Goneril und Regan mit höchst verlogenen Beteuerungen und kindlich koketten Gesangsdarbietungen zu entzücken versuchen. Die wahrlich vaterliebende Cordelia verweigert das buhlerische Ritual – und wird verjagt. Der Anfang vom Ende.

Arsch der Menschheit

Lear will sein Rentnerdasein abwechselnd bei Goneril und Regan verbringen, die Geld- und Machthyänen aber haben keine Lust mehr, ihren Teil des Generationenvertrages einzuhalten. Nehmen dem Vater das Gefolge, die Würde, zwängen ihn in einen Rollstuhl und schieben ihn obdachlos ab in eine unwirtliche Landschaft – heute wäre es ein schäbiges Seniorenheim.

Damit nun kein Zuschauer auf die Idee kommt, es sei geschlechtsspezifisch, wenn zwei Frauen ihren Egoismus niederträchtig ausleben, sind die beiden Rollen mit Männern besetzt. Carlo Ljubek und Samuel Weiss stöckeln tuntig herum und machen bösen Spaß als Drag-Queen-Komödianten. Damit zudem niemand auf die Idee kommt, dass Eddie Motherfucker I. sich in der Parallelhandlung nur deswegen als rücksichtsloser Ur-Bösewicht „wider die Pest der Konventionen“ selbst ermächtigt, weil er ein Mann ist, ist diese Rolle mit Sandra Gerling besetzt.

Das Motto der dreiköpfigen missratenen Brut: Der Aufstieg der Jungen beginnt mit dem Sturz der Alten. Es lebe der Hass, ein ewig junges Gefühl. Umgang mit dem Alter, Geschlechterkampf, die Gender-Debatte werden also angerissen und weitere aktuelle Probleme addiert zum unglaublichen Reichtum an Themen, die Shakespeare bereits in die Handlung gewoben hat. Aber alles bleibt Staffage.

Eine Livemusikerin schlägt derweil den Takt der Todesuhr und rhythmisch den Klavierdeckel zu – als würden Bomben explodieren. Lina Beckmann versucht als rührend besorgter, verzweifelt scherzender Narr den Verstand Lears zu reanimieren und ihn als Cordelia noch mal frisierend zu bändigen. Aber der König rettet sich vor der verrückten Welt komplett in die eigene Verrücktheit. Diener Kent und Edgar spielen ihm diese vor, dessen geblendeter Vater irrt dem Selbstmord entgegen. Nacktes Wahnsinnsgewusel.

Schleppend von Einfall zu Einfall

Beier will einen Furor erzeugen und auf Archaisches hinaus, kommt aber nie in den Flow innerer Schlüssigkeit, sondern schleppt sich von Katastrophe zu Katastrophe, von Regieeinfall zu Regieeinfall. Die Aufführung zerfällt, obwohl das Top-Ensemble beständig wirbelt, um alles zusammenzuhalten. Klar ist nur der Scherenschnittfilm des Geschehens, der durch geschicktes Lichtdesign an den Bühnenwänden zu verfolgen ist. Schließlich sind die Protagonisten nur Schatten ihrer selbst.

Nächste Aufführung: Sa, 27. 10., 19 Uhr, Deutsches Schauspielhaus

Weitere Termine: 10./11./21.11. und 27./30.12.

Am Ende aber nicht einmal mehr das, sondern nur noch Objekte einer Leichenlandschaft. Lediglich Edgar frohlockt und haut eine Generalabrechnung mit der Welt kreuzfidel ins Publikum. „Das Bewusstsein von Leere, Ohnmacht, Sinnlosigkeit, Chaos bedeutet für ihn nicht, dieselben anzuerkennen“, erklärt Dramaturg Christian Tschirner, „das große Nothing bildet für ihn lediglich die Folie, auf der und gegen die sich menschliches Dasein fortan behaupten muss.“

Der letzte Mensch, der durch die Hölle ging, ist der erste, der wieder ins Paradies aufbrechen will. „Her mit dem nackten Arsch der Menschheit“, sagt Edgar, deutet Flucht um in einen positiven Daseinszustand, will grenzenlos, vogelfrei unterwegs sein. Und tanzen. Also tanzt er. Tanzt. Und tanzt. Toll. Nur stehen jetzt fünf auf- und endlich anregende Schlussminuten drei nur aufgeregten, grell leerlaufenden Aufführungsstunden gegenüber. Die Regie will viel – aber das viel zu spät.

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