Mehr als nur ein Umweltthema

Insgesamt acht Reisen innerhalb von vier Jahren unternahm Yan Preston für ihre fotografische Gesamtbetrachtung des Jangtse

Yan Preston, „Mother River“, Y57. 5.600 Kilometer von der Quelle entfernt und damit relativ nah an der Mündung in Shanghai Foto: Hatje Cantz Verlag

Von Katharina J. Cichosch

Dass sich ihr eigenes Sehen verändert hatte, wurde Yan Preston unmissverständlich deutlich, als sie dafür einige Stunden im Gefängnis verbringen musste. Zusammen mit ihrem kleinen Team fertigte sie Aufnahmen am Ufer des Jangtse an, jenes mythenbeladenen, 6.380 Kilometer langen Wasserlaufs, den man in China auch„Mother River“ nennt. Das Setting deckte sich kaum mit den Motiven, die sonst im Land zirkulieren: nebelverhangene Felsklippen über Wasser, farbensatte Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Die Bewohner des kleinen Ortes konnten nicht begreifen, was Preston hier bei ihnen wollte, wurden misstrauisch – und riefen vorsorglich die lokale Polizei. Die hielt die Fotografin bis zum Abend fest, und Prestons einzige Sorge lautete: Verdammt, hoffentlich reicht das Licht noch für eine gute Aufnahme.

Abstand war die Voraussetzung für diese fotografische Annäherung, die Yan Preston im Telefongespräch beschreibt. Vor 15 Jahren zog sie mit ihrem Mann aus China nach London, und relativ bald begann das, was die heute 42-Jährige als „kritisches Erwachen“ bezeichnete: In China lebte sie im ständigen Strom der Dinge, erst aus der Distanz wurde die Selbst- und Fremdbetrachtung möglich. Irgendwann schrieb sich die ausgebildete Anästhesistin an der Kunsthochschule ein.

Schon frühere Fotoreihen wurden ausgestellt und teils auch verlegt. „Mother River“, das nun in Buchform erscheint, bezeichnet Yan Preston dennoch als ihr erstes Großprojekt. Es schreibt sich ein in bald 200 Jahre Fotografiegeschichte, die mal größenwahnsinnig, mal bescheiden die Welt einzufangen versucht. In diesem Kontext könnte Prestons Band den Arbeitstitel tragen: Wie der drittlängste Fluss der Welt, dieses multidimensionale Wesen, schließlich in der zweiten Dimension abbildbar wird. Insgesamt acht Reisen innerhalb von vier Jahren hat Preston dafür unternommen. „Ja, es ist durchgeknallt, der Aufwand klingt bescheuert “, erzählt die Fotografin lachend. „Aber wissen Sie: Es ist ein sehr großer Fluss!“

Um den fotografisch bezwingen zu können, erlegte sich Yan Preston relativ enge Regeln auf. Geografisch und konzeptionell: Per Google Earth teilte sie den Jangtse in 63 möglichst exakte Koordinaten ein, die sie anschließend mit ihrer Linhof-Großformatkamera bereiste. Soweit möglich – an einigen Stellen musste sie ins tiefste Tal, an anderen tausende Meter hoch über das Flussbett. Und natürlich ist kein GPS der Welt exakt, konnte auch dies wieder nur eine Annäherung sein. Von jedem Ort sollte ein Foto mitgebracht werden.

„Es hat mich zwei Jahre gekostet, allein ein Gespür für alles zu bekommen. Welche Möglichkeiten der Jangtse hergibt, welche Bilder. Eine komplette Reise habe ich benötigt, um den Fluss annähernd zu begreifen.“ Was in pragmatisch-süffisanter Distanz des britischen Zungenschlags gar nicht esoterisch, sondern absolut zwingend klingt. Mehrfach reiste sie zur Quelle und zur Mündung des Jangtse, durch tibetische Dörfer, Metropolen und die Heimat ihres Vaters, die Preston als typisch gesichtslose, chinesische Mittelstadt beschreibt. „Es ist eine dieser Ideen, die du nicht rausbringen kannst, bis sie vollständig zu Ende gedacht sind. Aber bis dahin wird es sehr teuer werden, es wird sehr anstrengend werden, und der Ausgang ist absolut ungewiss.“

Abstand war Voraussetzung der Annäherung per Fotografie

Welche Fotos heraussortiert wurden, welche Orte Preston mehrfach bereisen musste, um technische Fehler und Zufälle auszugleichen, sieht man dem Resultat nicht an. Ein versehentlich falsch herum eingelegter Film tauchte eine ganze Bilderreihe in dramatisches Schwarz-auf-Rot. Mehrere Verleger, erzählt die Fotografin, boten ihr begeistert eine Veröffentlichung an – die Aufnahmen seien so schön arty. Sie entschied sich gegen die schmeichelhafte Lösung: Als der Frust über den verhunzten Film abgeklungen war, bereiste sie die betroffenen Koordinaten erneut. Ein Motiv ließ sie in der Bilderstrecke, als kleinen Triumph des Zufalls über das Konzept. Überlagern sollte der formale Ausrutscher ihr Gesamtwerk aber nicht.

Die Entstehungsgeschichte von „Mother River“ zeichnet den permanenten Kampf des Zufalls gegen die Planung, des Lebens gegen die Kunst. Das Resultat erinnert streckenweise an die New Topographics, mit denen Yan Preston das Faible für eine nüchterne, gleichsam zugewandte Betrachtung menschengemachter Landschaften teilt. Mal kommen jene Menschen vor, mal nicht. Dann weisen ihre Bilder tiefenscharf in unendliche Weiten, in denen sich kein Vor- und Hintergrund ausmachen lassen. Yan Prestons haben wenig mit den grellen Motiven abgefahrener Orte und Seltsamkeiten aus dem Land der Mitte zu tun, die aktuell zumindest im Westen viel Aufmerksamkeit entgegenschlägt: Stattdessen spröde Öde, schöne Öde.

Ursprünglich, erzählt Preston, sei es vor allem der harsche Kontrast zwischen Fluss-Verklärung und durchindustrialisierter Realität gewesen, der ihren Wunsch einer anderen Bildgeschichte befeuerte. Heute sei sie glücklich darüber, dass „Mother River“ mehr geworden sei als ein Umweltthema, das den Jangtse wieder auf andere Weise begrenzte: „Man kann nicht so leicht einen Deckel draufmachen.“ So wurde das Projekt auch zur persönlichen Tour de Force, eine Annäherung an die Heimat aus der Ferne mit fotografischen Mitteln. Und am Ende auch symbolische Win-win-Situation mit der Familie: Vor wenigen Wochen bekam Yan Preston den Doktor in Philosophie für „Mother River“ verliehen. Der Titel war Prestons Argument an die Eltern, sie während des mehrjährigen Kunstprojekts zu ­unterstützen.

Yan Wang Preston: „Mother River“. Hatje Cantz, Berlin 2018, 160 Seiten, 71 Abb., 58 Euro