Kriminologe über Polizeigewalt: „Graubereich Verhältnismäßigkeit“

Die meisten Ermittlungen gegen Polizeigewalt werden eingestellt, sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein. Er will das Feld systematisch untersuchen.

Ein Polizist schlägt mit einem Schlagstock auf einen schwarzgekleideten Demonstranten

Schlagstockeinsatz gegen einen Anti-G20-Demonstranten in Hamburg Foto: dpa

taz: Herr Singelnstein, von den Ermittlungen gegen Polizisten wegen Polizeigewalt beim G20-Gipfel wurde bereits über die Hälfte eingestellt. Was erwarten Sie von den noch laufenden Verfahren?

Tobias Singelnstein: Nach den Erfahrungen in anderen Verfahren wegen Körperverletzung im Amt muss man davon ausgehen, dass die meisten Ermittlungen eingestellt werden.

Woran liegt das?

Zum einen wird es Fälle geben, in denen die Betroffenen falsch einschätzen, wie weit die Befugnisse der Polizei gehen. Sehr viel entscheidender sind meines Erachtens aber die strukturellen Besonderheiten dieser Verfahren.

41, ist Professor für Kriminologie an der Ruhr Universität Bochum. Er leitet das Projekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“.

Worin bestehen die?

Zum einen ermitteln da Kollegen gegen Kollegen – es ist nachvollziehbar, dass man da einen anderen Blick hat. In der Regel ist die Beweissituation schwierig, weil die Aussage eines mutmaßlichen Opfers der Aussage mehrerer Polizisten gegenübersteht, mehr Beweise gibt es oft nicht.

Gerichte glauben meist den Polizisten. Warum?

Polizeibeamte sind in Strafverfahren alltäglich präsent, es gibt kaum Strafverfahren, wo sie nicht als Zeugen auftreten. Aus Sicht der Justiz sind sie besonders glaubwürdige Zeugen. Dabei zeigt die empirische Forschung keineswegs, dass sie besser beobachten und erinnern. Aber die Gerichte sind daran gewöhnt, ihnen zu glauben. In Verfahren wegen Körperverletzung im Amt wird dann oft nicht gesehen, dass die Polizisten selbst Beteiligte sind, unter Umständen eine sehr subjektive Sicht haben und Eigeninteressen verfolgen.

Finden die Taten häufig im Grenzbereich des Erlaubten statt?

Es gibt Graubereiche, zum Beispiel beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Staatliches Handeln muss ja immer erforderlich und angemessen sein. Da sind die Grenzen mitunter fließend.

Welche Rolle spielen Gegenanzeigen?

Es kommt in der Praxis häufig vor, dass einer Anzeige wegen Körperverletzung im Amt eine Anzeige wegen Widerstands oder versuchter Körperverletzung gegenübersteht. Die Ermittlungen gegen die Polizisten werden zumeist eingestellt, während die gegen die Bürger nach meinem Eindruck häufig zu Verurteilungen führen.

Was wollen Sie mit Ihrer Forschung herausfinden?

Das Feld ist bislang nicht systematisch untersucht. Wir wissen zwar aus der Statistik, dass jährlich etwa 90 Prozent der Verfahren gegen Polizisten wegen Gewaltausübung eingestellt werden. Die Anklagequote in diesem Bereich liegt bei nur zwei bis drei Prozent. Dies sind aber nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht worden sind. Über das sogenannte Dunkelfeld ist kaum etwas bekannt. Da wollen wir Licht reinbringen. Wir wollen auch herausfinden, aus welchen Gründen sich Betroffene für oder gegen eine Anzeige entscheiden.

Wie gehen Sie vor?

Aktuell führen wir eine anonyme Onlinebefragung durch, an der Betroffene von rechtswidriger Polizeigewalt teilnehmen können. Im zweiten Teil des Projekts vertiefen wir die Ergebnisse durch Interviews mit Experten und Betroffenen.

Woran liegt es, dass das Feld so schlecht erforscht ist?

Bis vor ein, zwei Jahrzehnten hat in Politik, Polizei und Gesellschaft das Bild vorgeherrscht, dass das Problem gar nicht existiert oder nur das Problem einzelner schwarzer Schafe sei. In den letzten zehn Jahren hat sich die Debatte geöffnet.

Woran machen Sie das fest?

Vorwürfen gegen Polizisten wird häufig immer noch mit Misstrauen begegnet. Aber das Thema Körperverletzung im Amt spielt eine Rolle in der öffentlichen Debatte, es gibt ein Problembewusstsein. Die Kennzeichnungspflicht für Polizisten oder die Beschwerdestellen in einigen Bundesländern sind Zeichen dafür. Auch wenn man im Einzelnen schauen muss, wie viel diese Dinge in der Sache ändern, haben diese Entwicklungen doch einen erheblichen symbolischen Wert und zeigen, dass der Gesetzgeber Handlungsbedarf sieht.

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