Grünen-Parteitag in Leipzig: Pragmatisch und etwas crazy

Die Grünen einigen sich auf eine Linie in der europäischen Flüchtlingspolitik. Die Parteispitze biegt erfolgreich peinliche Vorstöße ab.

Robert Habeck vor einer Weltkugel

Die Erdkugel im Rücken und ihr doch zugewandt: Robert Habeck Foto: dpa

LEIPZIG taz | Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ist Querschüsse aus der eigenen Partei gewohnt. Kretschmann? Kellner atmet tief ein. Baden-Württembergs Ministerpräsident verwende eine „radikale Sprache“, sagt er. So kenne er ihn gar nicht. Dann versucht Kellner eine positive Deutung. Er würde Kretschmann als Bestätigung der grünen Position lesen, gegen Ankerzentren zu sein, also gegen die Kasernierung vieler Menschen an einem Ort.

So kann man es natürlich auch sehen. Am Samstag diskutieren die 850 Delegierten des Grünen-Parteitag in Leipzig über europäische Sicherheits- und Flüchtlingspolitik. Es ist das Kapitel im Europawahlprogramm, zu dem es am meisten Änderungsanträge gibt. Die Grünen wollen „Humanität und Ordnung“ verbinden, das sind die Stichworte, auf die alle sich geeinigt haben.

Manche wollen nur mehr Ordnung als andere. Der konservative Kretschmann hat sich in der Heilbronner Stimme markig zu Wort gemeldet. „Junge Männerhorden“ seien salopp gesagt das Gefährlichste, was die menschliche Evolution hervorgebracht habe. Der Gedanke, einige von ihnen „in die Pampa“ zu schicken, sei nicht falsch. Großstädte seien für solche Leute wegen der Anonymität attraktiv.

Gefährliche Männerhorden in die Pampa schicken? So könnte auch Horst Seehofer formulieren. Ein solcher Vorstoß, an diesem Tag, das hat das Zeug für eine maximale Provokation. Linke Grüne können sich über Kretschmann in Rage reden.

Unveräußerlichkeit der Menschenrechte

Doch die Parteispitze ist fest entschlossen, Streit zu vermeiden – auch die Vorsitzende Annalena Baerbock betreibt Schadensbegrenzung. „Ich hätte es anders formuliert, aber in der Sache unterstreicht Kretschmann das, wofür wir Grünen lange streiten“, sagt sie. Bestimmte Strukturen beförderten Gewalt. „Daher haben wir immer gesagt, dass es für Asylsuchende dezentrale Unterbringung geben muss.“

Die Neigung der Industriestaaten, verantwortlich mit ihrem CO2-Ausstoß umzugehen, ist überschaubar.

Kretschmann liefert am Ende nur einen Zwischenruf von der Seitenlinie. Nach Leipzig ist der Ministerpräsident wegen Terminproblemen nicht gereist. Ansonsten einigten sich die Grünen überraschend einhellig bei dem brisanten Thema. Am späten Freitagabend trafen sich die Antragsteller mit den Emissären der Parteispitze zum klärenden Gespräch. „Alle wollten unbedingt, dass wir zusammenkommen“, hieß es danach.

Die Grünen stünden für „die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte und das Recht auf Asyl für Schutzbedürftige“, heißt es in dem Text, auf den sie sich einigten. Das Dublin-System, wonach Asylsuchende in dem europäischen Land Asyl beantragen müssen, das sie zuerst betreten haben, sehen die Grünen als „ungerecht, wirkungslos und gescheitert“. So werde die Verantwortung einseitig auf Länder an den südlichen und östlichen EU-Außengrenzen abgewälzt.

„Klimapass“ soll kommen

Die Grünen wünschen sich stattdessen ein europäisches Asylsystem, das wie folgt funktioniert: An den EU-Außengrenzen gäbe es Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen die Geflüchteten registriert und medizinisch versorgt würden. Jene dürften aber „nicht zur Sackgasse in Massenlagern werden“ – wie etwa im griechischen Lesbos. Stattdessen müssten die Geflüchteten von einer gestärkten EU-Asylbehörde schnell und fair auf die EU-Staaten verteilt werden.

Diese Position klingt gut. Sie ignoriert aber, dass Kanzlerin Angela Merkel seit drei Jahren erfolglos an einem europäischen Verteilungsschlüssel für Geflüchtete arbeitet. Osteuropäische Staaten wie Polen oder Ungarn verweigern Aufnahmen. Im Leitantrag findet sich viel Bekanntes. Zum Beispiel bekräftigen die Grünen ihr Nein zu Sicheren Herkunftsstaaten. Dieses Prinzip sei falsch und beschleunige keine Verfahren.

Aber auch Neues wird beschlossen. So wird im Europawahlprogramm ein so genannter Klimapass stehen. Er reagiert auf die Tatsache, dass die Zahl von Klimaflüchtlingen zunehmen wird. Industriestaaten, die besonders für die Klimakrise verantwortlich sind, sollen Menschen aufnehmen, deren Heimat von steigenden Meeresspiegeln bedroht wird, zum Beispiel aus Inselstaaten. Auch diese Idee dürfte es im Praxistest schwer haben. Die Neigung der Industriestaaten, verantwortlich mit ihrem CO2-Ausstoß umzugehen, ist überschaubar.

„So ist meine Partei“

Die Grünen beweisen aber auch Pragmatismus. Ein Antrag, der fordert, Asylverfahren in Einrichtungen an der EU-Außengrenze durchzuführen, scheitert spektakulär. Die Flüchtlingsexpertin Luise Amtsberg ruft unter lautem Beifall: Dieser Vorschlag bedeute Ankerzentren an den Außengrenzen. „Welches Signal sendet das?“ Bereits jetzt sei die Versorgung in den Einrichtungen nicht menschenwürdig – obwohl sie nur verteilen müssten.

Ein absurder Streit über einen Satz im Wahlprogramm wird ebenfalls gütlich beigelegt. „Auch wenn nicht alle, die kommen, bleiben können.“ Die banale Aussage erboste Grüne um Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth, weil sie direkt hinter der Feststellung stand, das Recht auf Asyl sei nicht verhandelbar. Der Vorstand verhandelte einen Deal, der eine öffentlichkeitsträchtige Abstimmung vermied: Der Satz wird – neu eingebettet – an eine andere Stelle im Programm verschoben, bleibt aber unverändert.

Ein Journalist fragt Bundesgeschäftsführer Kellner etwas verzweifelt: „Ich verstehe nicht, was sich dadurch ändert?“ – „So ist meine Partei“, antwortet Kellner. Man müsse eben puzzeln bis alles zusammenpasst. Heißt übersetzt: Ok, bisschen crazy sind wir Grünen schon.

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