Armut nimmt unter Rot-Grün nicht ab, sondern zu

STAATSKNETE Die Linksfraktion bereitet sich auf die Haushaltsberatungen vor. Zur Bekämpfung von Armut, so ihre These, wird es in den kommenden Jahren weniger Geld geben als bisher. Wir dokumentieren auf dieser Seite Texte aus der Debatte der Linken

„Armutsbekämpfung geht vor Haushaltssanierung“

Von Christoph Spehr

Armut fällt nicht vom Himmel, Armut wird gemacht. Wäre die Arbeit gleich verteilt zwischen Vollzeitbeschäftigten, Teilzeitbeschäftigten, geringfügig Beschäftigten und Arbeitslosen, würde im Land Bremen jeder und jede 30 Stunden Erwerbsarbeit leisten. Wären die Stundenlöhne in den letzten 15 Jahren so gestiegen wie die Produktivität, würden wir 30 Stunden bei vollem Lohnausgleich arbeiten. Das System aus Massenarbeitslosigkeit, Arbeitszeitverlängerung und stagnierenden Löhnen spart den Unternehmen demgegenüber allein im Land Bremen ca. 3 Milliarden Euro jährlich. Der Staat gibt im Land Bremen ca. 600 - 700 Millionen Euro für das System Arbeitslosigkeit aus (Bund, Land, EU, Bundesagentur, Bagis usw.). Die Differenz zwischen beiden Zahlen schafft Armut. Es ist das Geld, das den Beschäftigten und der breiten Bevölkerung fehlt.

Nach dem „Lebenslagen“-Bericht sind im Land Bremen zwischen 120.000 und 180.000 Menschen arm. Die Zahlen sind geschätzt. Sicher ist, dass 97.000 Menschen Sozialleistungen beziehen und 14.000 Menschen Arbeitslosengeld I, dass ca. 40.000 Menschen arbeitslos sind und weitere ca. 40.000 nur geringfügig beschäftigt.

Die größten Gruppen von Armen sind Arbeitslose und ihre Familien; NiedriglöhnerInnen und ihre Familien; SeniorInnen mit Grundsicherung oder Niedrigrenten; arbeitslose alleinerziehende Frauen und ihre Kinder. Kleinere, aber besonders existenziell von Armut betroffene Gruppen sind AsylbewerberInnen, Wohnungslose, Obdachlose, Drogenabhängige und arme chronisch Kranke. Familien mit Migrationshintergrund und ausländische Familien sind besonders häufig arm. Die Abhängigkeit der Lebens- und Bildungschancen von der sozialen Herkunft ist in Bremen und Bremerhaven extrem stark. Hier sind generationenübergreifende Kreisläufe von Armut und Ausschluss entstanden, die sich weiter verfestigen.

Armut entsteht zunächst nicht ursächlich aus „Lebenslagen“. Aber sich selbst verstärkende Armutsprozesse und sozialräumliche Segration schaffen Bedingungen, wo selbst eine materielle Besserstellung – z.B. durch Schaffung von Arbeitsplätzen oder erhöhte Transferleistungen – das Problem nicht löst. Es gibt mittlerweile „Lebenslagen“, die dauerhafte Armut programmieren und auf die nächste Genration vererben. Sich selbst verstärkende Armutsprozesse zu bekämpfen bedeutet, dass man Maßnahmen entwickeln muss, die Armut schneller bekämpft als sie entsteht. Davon ist Bremen weit entfernt.

Massenarmut, Massenarbeitslosigkeit und die inhumane Spaltung in „Turboleister“ und „eingeschränkt Beschäftigungsfähige“ können nur auf Bundesebene angegriffen werden. Mindestlöhne, Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhung, höhere Besteuerung von Gewinnen und Vermögen, Abschaffung von Hartz IV und eine radikale Stärkung von Arbeits- und Beteiligungsrechten der Beschäftigten sind die notwendigen Schritte. Gerade in der Krise ist eine aktive Konjunktur-, Investitions- und Arbeitsmarktpolitik des Staates erforderlich.

Dennoch steht Landespolitik in der Verantwortung. Sie kann und muss:

- Armut deutlich verringern durch Einkommen und durch Arbeit

- Generationenübergreifende Armutsprozesse aufbrechen

- Soziale und sozialräumliche Spaltung verringern

- die Armutslage besonders gefährdeter Gruppen deutlich verringern.

Das kostet Geld und ist von begrenzter Wirkung. Aber: Auch mit begrenzten Mitteln lassen sich zumindest deutliche Wirkungen erzielen – wenn der politische Wille da ist.

Masterplan Armut

Für Linke ist Armutsbekämpfung und damit die Wiederherstellung von Menschenwürde erstes Ziel. Ein „Masterplan Armutsbekämpfung“ muss aus einem integrativen Ansatz heraus Kernprojekte formulieren, die eine deutliche Wirkung auf eine große Zahl von Betroffenen haben. Die wichtigsten sind:

1. Öffentlich geförderte Beschäftigung. 10.000 geförderte, armutsfeste, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze kosten etwa 100 Millionen Euro an Landesmitteln, diese wären schrittweise aufzubauen.

2. Sozial integratives Bildungssystem. Doppelbesetzung mit 2 Lehrkräften in den Klassen 1 - 6, für individuelle Förderung, interkulturelle Öffnung und Entkopplung der Bildungschancen von der sozialen Herkunft. Kosten etwa 50 Millionen Euro, ebenfalls schrittweise aufzubauen.

3. Stärkung der sozial benachteiligten Stadtteile. Anhebung stadtteilbezogener Projektmittel, Wiedereinstieg in den sozialen Wohnungsbau, Integration von öffentlichem Wohnungsbau und energetischer Sanierung, sozialräumliche Ausrichtung der Beschäftigungsförderung, Dezentralisierung von Verwaltung, Ausfinanzierung soziokultureller Projekte. Bislang keine Quantifizierung.

4. Verteidigung und Verbesserung der Einkommenssituation von Arbeitslosen und GeringverdienerInnen. Die Einkommen der Hartz-IV-Bezugsgemeinschaften sind durch volle Erstattung der realen Miet- und Heizungskosten und durch Einmalzahlungen für Sonderbedarfe zu stärken, der Ausbau der frühkindlichen Betreuung zeitlich zu beschleunigen. Und wir fordern die Einführung eines echten Sozialtickets. Für Zielgruppen wie arbeitslose alleinerziehende Mütter sind Sonderprogramme zu erarbeiten.

Das kostet Millionen

Nimmt man diese Ansätze und addiert man dazu die im Armuts- und Reichtumsbericht vorgeschlagenen Lösungsvorschläge, so ergibt sich ein Handlungsbedarf, der eine Erhöhung der Ausgaben für Armutsbekämpfung in dreistelliger Millionenhöhe bedingt.

Es ist sicher möglich, einen Teil dieses Geldes durch Umsteuerung im Haushalt bereitzustellen. Reichen wird das nicht. Vor allem bei den anfangs skizzierten Haushaltsperspektiven gibt es keine Chance, Armut, so gut es auf Landesebene geht, zu bekämpfen und gleichzeitig einen wie auch immer gearteten Sanierungspfad einzuhalten.

Armutsbekämpfung geht vor Haushaltssanierung, also auch auf Kosten einer sorgfältig begründeten Neuverschuldung und notfalls auch durch Aufkündigung eines mit dem Bund demnächst vereinbarten Sanierungszwangs.