Amerikanische Angst

Von Prangern, Handschellen, Bierdosen und Stars and Stripes: Cady Noland hat im Frankfurter MMK eine grandiose Retrospektive

Cady Noland, „Model with Entropy“, 1984 Foto: Axel Schneider/MMK

Von Kito Nedo

Der Anfang der Neunziger auf einem dreieckigen Grundstück eröffnete postmoderne Museumsbau von Hans Hollein für das Frankfurter Museum für Moderne Kunst – MMK ist in der Vergangenheit schon sowohl mit einem Tortenstück als auch mit einem in der Stadtlandschaft gestrandeten Flugzeugträger verglichen worden. Im asymmetrisch angelegten Inneren des Gebäudes mit seinen teilweise dramatisch spitz zulaufenden Raumfluchten, Diagonalen, Nischen, Treppen und Treppchen bieten sich dem Publikum mitunter Blickachsen, die den labyrinthischen M.C.-Escher-Zeichnungen ähneln. Womöglich hat der postmoderne Charakter der Architektur seinen Anteil daran, dass die von Susanne Pfeffer kuratierte große monografische Schau zum Werk der US-Amerikanerin Cady Noland in diesen Räumen so gespenstisch gut funktioniert. Dem Soziologen Stuart Hall zufolge ging es in der Postmoderne auch darum, „wie die Welt träumt, ,amerikanisch‘ zu sein“. Und von allen deutschen Städten träumte „Mainhattan“ diesen Traum bekanntlich am intensivsten. Der Künstlerin Noland eilt hingegen der Ruf voraus, kritische Bilder und installative Situationen für den amerikanischen Alptraum produziert zu haben. So wandelt man als Besucher in Frankfurt also durch mindestens zwei ineinander verschachtelte Träume, die sich im Kern um ein und dieselbe Sache drehen.

Nur böse Klischees?

An Alptraumgestalten mangelt es in der Kunst von Cady Noland nicht. Da ist zum Beispiel das berühmte Foto aus dem Jahr 1963 von Lee Harvey Oswald, dem von unzähligen Verschwörungstheorien umrankten mutmaßlichen Kennedy-Attentäter in dem Moment, in dem ihn in Dallas selbst die Kugel seines Mörders, des Nachtclubbesitzers Jack Ruby trifft. Noland schnitt Ende der Achtziger Oswalds lebensgroße Silhouette aus der Pressefotografie und produziert eine Art Aufsteller aus Aluminium („Oozewald“, 1989), der einen sogenannten „Standee“ ähnelt, wie man ihn aus Kino-Foyers oder Comicläden kennt – als handele es sich um eine Pop-Ikone. Wie in einer nachvollziehenden Geste der Gewalt findet sich der Aufsteller von acht tennisballgroßen Löchern durchgestanzt, vier in den Körper und vier im Gesicht. Dort, wo der Mund wäre, hat die Künstlerin eine Art Knebel aus einer kleinen US-Flagge in das Loch gestopft, der auf der Rückseite in einem roten Coca-Cola-Becher steckt. Typisch für Nolands Werke, so schrieb einst der Kunsttheoretiker Lane Relyea, sei die Unklarheit „ob sie gerade eine Untersuchung über das Wesen Amerikas anstellt oder bloß mit bösen Klischees um sich wirft, ob sie analysiert oder nur herumspielt, ob sie ernsthaft forscht und arbeitet oder sich schlicht die Zeit vertreibt“. Genau um diese verwirrende Offenheit geht es wohl.

So verhält es sich auch mit der Installation „Publyck Sculpture“ (1993–94), der man gleich zu Beginn des Rundgangs begegnet: eine Art sehr grundsätzlich gestaltete Kinderschaukel, bestehend aus einem metallisch-kantigen Aluminium-Rahmen, von dem drei an Metallketten aufgehängte sogenannte Weißwandreifen hängen, die man vielleicht mit Straßenkreuzer-Oldtimern assoziiert. Man könnte aber auch angesichts der Reifen-Trinität an entsprechende Spielgeräte in einem Bären- oder Affengehege im Zoo denken, was das Bild eines Gitters oder einer Absperrung schon dann ins Spiel bringt, ohne dass eine solche Barriere zunächst sichtbar wäre. Reifen und anderes Zubehör tauchen wiederholt in den Installationen der Ausstellung auf, doch sie erscheinen nicht als sentimentale Hommage an das seit jeher mit der Mobilität verknüpfte Freiheitsversprechen in der modernen US-amerikanischen Gegenwartskultur. Wie um dies zu unterstreichen, hat Pfeffer in einem der oberen Räume ein diesbezüglich korrespondierendes Warhol-Gemälde aus der berühmten „Disaster“-Serie von Anfang der Sechziger installiert, welches sich in der Sammlung des Museums befindet. Die Grundlage dieser düsteren Warhol-Serie bilden fotografische Aufnahmen von Todesfällen, deren „Modernität“ sich in dem Umstand begründet findet, dass sie mit technischen Apparaturen wie Automobilen oder elektrischen Stühlen verbunden sind.

Ähnlich wie Warhol umkreist auch Noland in ihrer Kunst die US-amerikanische Medienkultur und die verstörenden Effekte ihrer ökonomischen Struktur. Die vielzitierten Warhol’schen „15 Minuten“ des Ruhms können auf ganz unterschiedliche Weise eintreten – das gilt für Aufsteiger wie Fallende, selbst für den bereits erwähnten Lee Harvey Oswald oder die Mitglieder der mörderischen Manson Family. Angesichts gegenwärtiger Fälle, wie der Skandal um den YouTube-Star Logan Paul, der sich vor Kurzem in einem Wäldchen nahe Tokio mit der Leiche eines Selbstmörders gefilmt hatte, zeigt sich, dass das morbide grundierte Medienthema, so wie es sich in der Installation „Celebrity Trash Spill“ (1989) materialisiert, alles andere als erledigt ist. Auf dem Boden finden sich Ausgabe der konservativen Boulevardzeitung New York Post vom April 1989 mit der Schlagzeile vom Tod des linken Aktivisten und Bestseller-Autors („Steal this Book“) Abbie Hoffman, verschiedene Boulevard-Magazine, Kameras mit dazugehörender Ausrüstung, Kamerastative, Mikrofon, Glitzerrock, Sonnenbrillen, Schlafbrille, Teppich, zwei Fußmatten, eine Marlboro-Zigarettenschachtel. Das traurige Durchwühlen von Abfalltonen hinter den Villen der Schönen und Reichen gehört traditionell zu den harmloseren Aktivitäten von Paparazzi und Klatschreportern.

Die große Unbekannte

Auch Noland umkreist in ihrer Kunst die US-amerikanische Medienkultur

Auf die Tatsache hin, dass die Kunstwelt in manchen Bereichen in den letzten Dekaden ein eigenes Starsystem ausgebildet hat, das dem der Mode oder dem Film strukturell ähnelt, hat Noland schon vor langer Zeit ihre Konsequenzen gezogen: Die letzte von ihr „autorisierte“ Einzelausstellung fand 1996 statt, die Künstlerin lässt sich nicht fotografieren und gibt keine Interviews. Galeristen, Sammler und Händler, die sich nicht an die von ihr definierten Regeln im Umgang mit ihren Werken halten überzieht sie mit Klagen oder sie bestreitet ihre Autorenschaft, um zu verhindern, dass ihre Kunst im Auktionshaus landet. Ähnlich wie ihr Kollege David Hammons zählt Noland zu den großen Unbekannten der zeitgenössischen Kunst, denen nicht zuletzt wegen ihrer konsequenten Verweigerung gegenüber den Sichtbarkeits- und Aufmerksamkeitszwängen des Marktes und der Medien großer Respekt gezollt wird.

In ihrem 1987 verfassten und 1992 anlässlich der Documenta IX nochmals überarbeiteten Essay „Zu einer Metasprache des Bösen“ zitiert Noland die Psychoanalytikerin Ethel Person, die davon schrieb, dass der „Psychopath die gleichen Eigenschaften wie der gesellschaftlich anerkannte männliche Unternehmer“ aufweise, nur sei der Psychopath eben „lauter“. Zu den Widersprüchlichkeiten der Gegenwart zählt, dass mit dem gegenwärtigen US-Präsidenten ausgerechnet ein von Sexskandalen umwehter Bauspekulant, Miss-Wahlen-Veranstalter und eine Reality-TV Figur zur Frontfigur einer neo-puritanischen Politik avanciert, der Abtreibungsgegner hofiert und das oberste Gericht mit ultrakonservativen Richtern bestückt. Zu seinen Machtpraktiken zählen die öffentliche Beschämung und Demütigung, die sich ganz klassisch im Objekt des Prangers materialisieren.

An Prangern, Handschellen, Bierdosen und Stars-and-Stripes-Flaggen mangelt es dieser Ausstellung nicht. Deshalb wirkt diese Schau so zeitgenössisch, obwohl alle Werke bereits vor zwanzig, dreißig Jahren produziert wurden. Die Gegenwart, so scheint es, hat den matten Schmelz des Historischen einfach verschluckt. „Der Mythos des amerikanischen Traums“, so steht es in einem Begleittext des Museums „den Noland scheinbar naiv ernst nimmt, ist jedoch zu einer globalisierten Wirklichkeit geworden: Verherrlichung von Gewalt, radikale Individualisierung, Konsum als Antrieb und Erfüllung, Kampf durch Ausschluss und Abgrenzung“. Das Ineinanderfallen von Traum und Alptraum kann also überall geschehen. Wie in einem Spiegellabyrinth täuscht die Distanz der verstörenden Zeichen und Praktiken der Gewalt. Sie sind womöglich näher, als vermutet.

Bis 31. März, Museum für Moderne Kunst Frankfurt; zur Ausstellung erscheint ein kostenloses Booklet