Blackout in Südkoreas Hauptstadt: Weltstadt offline

In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul fiel nach einem Brand das Internet aus – und damit Krankenhäuser, Bezahlsysteme und sogar die Polizei.

Blick aus den Bergen auf die südkoreanische Haupstadt Seoul

Umgeben von Natur und doch abhängig von der Technologie: die südkoreanische Weltstadt Seoul Foto: Imago/Westend 61

SEOUL taz | So müssen sich wohl zehn Espressi auf ex anfühlen: Wenn im rappelvollen Bus Dutzende Smartphones gleichzeitig aufheulen, drei Sekunden lang in penetrantem Piepton, und auf dem Handydisplay der Schriftzug „Notfall“ in roter Signalfarbe prangt. Ehe die linke Gehirnhälfte noch versucht, die koreanischen Schriftzeichen der SMS sinnerfassend zusammenzuwürfeln, assoziiert die linke Hemisphäre bereits auf verschwörungstheoretischen Hochtouren: Pjöngjang, Kim Jong Un, sein Zeigefinger auf dem roten Drücker. Ist gerade der Atomkrieg ausgebrochen?

Durchatmen nur wenige Sekunden später: Die Stadtregierung von Seoul hat ihren Bürgern lediglich eine Notfall-SMS geschickt, weil im westlichen Bezirk Mapo bei einer Firmenanlage von Korea Telecom ein Feuer ausgebrochen ist. Keine Toten, keine Verletzten. So schlimm kann’s ja dann nicht sein – oder etwa doch?

Korea Telecom (KT) ist eines der prestigeträchtigsten Unternehmen des Landes. Einst in öffentlicher Hand, hat es Südkorea flächendeckend mit Festnetzverbindungen versorgt. Derzeit arbeitet es auf Hochtouren daran, als erster Anbieter weltweit 5G einzuführen. Erst vor wenigen Wochen habe ich mir die entsprechenden Vorbereitungen in der Firmenzentrale zeigen lassen – in einem ovalen Showroom, der mit seinen LED-beleuchteten Boden aus einem „Star Trek“-Set hätte stammen können: Virtual-Reality-Brillen hingen an den Wänden, Miniatur-Hologramme flimmerten herum, orchestrale Musik erschallte aus unsichtbaren Boxen.

Bereits in den 1990er Jahren hat Südkoreas Regierung systematisch in Breitbandverbindungen investiert, mittlerweile fließt hier das Netz so schnell wie nirgendwo sonst. Seoul ist eine Stadt, in der du am Montagmorgen in eine Wohnung einziehst und am Nachmittag der Techniker vor der Tür steht, um den Wifi-Router zu installieren. Eingekauft wird ausschließlich via App; und die Bürgersteige sind voll von Smombies – Passanten, die wie gefesselt auf ihr Handydisplay schauen.

Kein Netz, kein Geld

Eine halbe Stunde später fährt mein Bus zufällig am Unglücks­ort vorbei. Flammen oder Rauch kann ich nicht mehr wahrnehmen, dafür sehe ich jedoch über ein Dutzend Ü-Wagen der großen Fernsehsender. Mein Reporter-Interesse ist geweckt, ich zücke mein Smartphone. Just in diesem Moment schluckt mich das schwarze Kommunikationsloch: kein Empfang, kein Internet. Erst später erfahre ich, was vorgefallen ist: Im Firmenkeller von Korea Telecom sind rund 150 Meter Glasfaserkabel niedergebrannt, zudem sind 168.000 Telefonleitungen zerstört worden. In einem Drittel des Stadtgebiets waren alle KT-Kunden für anderthalb Tage offline und abgeschnitten.

Ich befand mich auf dem Weg zu einem Jazzkonzert – deutlich verspätet. Meinem Bekannten musste ich jedoch am Treffpunkt warten lassen, da weder SMS noch Anrufe durchgingen. Und überhaupt: Wo war die Bar nochmal? Ich hatte mich blind darauf verlassen, spontan auf Google Maps nachzuschauen. Was früher selbstverständlich war, fühlte sich ungewohnt an: Passanten nach den Weg fragen.

Im Jazzladen angekommen wartete die nächste Herausforderung: Die Bar akzeptierte, wie fast alle Geschäfte im gesamten Bezirk, plötzlich nur noch Bargeld, das Kartensystem war schließlich vom Netz. Da in Seoul aber praktisch niemand mehr Bargeld in der Tasche hat, waren sämtliche Bankautomaten binnen weniger Stunden leergeräumt.

Längst ist der Diskurs überfällig: Wie abhängig vom Internet wollen wir leben? Und: Wie leicht lässt sich unser hoch vernetzter Staat in Anarchie und Chaos versetzen?

Am Montag waren die Tageszeitungen voll von Nachrichten über Studenten, die ans andere Ende der Stadt fuhren, um dort ihre Seminararbeiten rechtzeitig zur Onlinedeadline abzugeben. Oder über Autofahrer, die ohne ihr Navi schlicht verloren waren – weil sie keine herkömmlichen Straßenkarten mehr lesen können.

Auch das Kommunikationsnetzwerk mehrerer Polizeistationen brach zusammen. Dutzende Polizisten wurden zur zentralen Polizeibehörde geschickt, um dort via Radiofunk Berichte durchgereicht zu bekommen. Eines der größten Krankenhäuser der Stadt konnte keine Telefonanrufe entgegennehmen, sodass Arzttermine zeitweise nicht vergeben oder verschoben werden konnten. Ohne ihr Onlinesystem konnten auch einige Apotheken keine rezeptpflichtigen Medikamente mehr austeilen.

Die zweitgrößte Tageszeitung des Landes, Joongang Ilbo, nannte das Desaster einen „landesweiten Weckruf“, der der Volkswirtschaft „einen kritischen Schlag“ verpasst habe. Vielleicht ist das übertrieben, denn der Materialschaden betrug nur etwas mehr als umgerechnet 6 Millionen Euro. Auch am Aktienmarkt gab es keinen katastrophalen Einbruch: Die Aktie von KT schloss am Montag mit gerade einmal 1,82 Prozent Minus ab. Der volkswirtschaftliche Schaden dürfte dennoch immens sein.

Wie viel davon vom Unternehmen Korea Telecom übernommen wird, bleibt bislang noch offen: Das Unternehmen hatte bereits am Sonntagabend zugesichert, seinen Kunden einen Monatsbeitrag zu erlassen. Kleinen und mittelständischen Betrieben werde man erst später einen Kompensationsplan anbieten, so ein Firmensprecher.

Ein einziger Feuerlöscher

Am Montag berief Informationsminister Yoo Young Min eine Notfallsitzung mit den Vorstandsvorsitzenden der drei großen Telekommunikationsanbieter des Landes ein. Herausgekommen sind allerdings nur Präventionsmaßnahmen, für die es nicht mehr als eine gesunde Portion Menschenverstand braucht: Künftig sollen Backup-Systeme installiert und in Tunneln, in denen Telekomanbieter ihre Glasfaserkabel liegen haben, zusätzliche Sprinkleranlagen aufgestellt werden. In dem Tunnelgelände war vor dem Feuer nur ein einziger Feuerlöscher vorhanden.

Und doch könnte der Internet-Zusammenbruch endlich einen Diskurs anstoßen, der im technikbegeisterten Südkorea längst überfällig ist: Wie abhängig vom Internet wollen wir leben? Welche Gefahren birgt eine bargeldlose Gesellschaft? Und: Wie leicht lässt sich unser hoch vernetzter Staat in Anarchie und Chaos versetzen?

Das Jazzkonzert hätte übrigens kontemplativer nicht sein können. Keine Versuchung, kurz unterm Tisch die neuesten Chat-Nachrichten anzuschauen. Kein nerviger Vibrierton; niemand, der im Hintergrund telefoniert. Nach der letzten Zugabe sagte mein Sitznachbar, ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft, in kräftigem Bayerisch: „Das Ironische ist ja, im rückständigen Deutschland wäre in einer solchen Situation ja gar nichts passiert. Wenn ich zu meiner Mutter aufs Land fahre, gibt es schließlich ständig Funklöcher. Wenn ein Anbieter aussetzt, dann wechselt das Handy automatisch zum nächsten.“ Manchmal entpuppt sich technisches Hinterherhinken im Nachhinein als Vorteil.

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