Glanz des Mittelalters

Prachtvoll illustriert: Christopher de Hamels Reise durch Raum und Zeit

Christopher de Hamel: „Pracht und Anmut. Begegnungen mit zwölf herausragenden Handschriften des Mittelalters“. Übers. vonM. Müller. Bertelsmann, Gütersloh 2018, 752 S., 48 Euro

Von Micha Brumlik

Es war einmal: Das Buch. Das, was heute zu verschwinden scheint, hat vor Hunderten von Jahren seinen zivilisatorischen Höhepunkt erreicht. Freilich ist das „Buch“ nicht zu verwechseln mit jenen Produkten, die seit dem 16. Jahrhundert mittels der Druckerpresse hergestellt wurden und durch ihre massenhafte Verbreitung politische Umbrüche und vor allem die Reformation ermöglichten. Heute jedoch, da das gedruckte Buch zunehmend durch elektronische Texte ersetzt wird, ist es unerlässlich, sich zu erinnern, was ein Buch einmal war oder doch wenigstens sein konnte.

Im hier anzuzeigenden Fall sind Gegenstand und Thema identisch: Christopher de Hamels soeben auf Deutsch erschienener Band „Pracht und Anmut“ verkörpert genau das, wovon er handelt: die Pracht und die Anmut von zwölf Büchern, genauer von zwölf herausragenden, buchförmigen Handschriften des Mittelalters.

Der Verfasser, lange Jahre selbst Bibliothekar sowie Mitarbeiter des Auktionshauses Sotheby’s erzählt die Geschichte dieses allmählich verschwindenden Kulturguts auf mehr als sechshundert, zum Teil herrlich illustrierten Seiten in zwölf liebevoll gestalteten Kapiteln. Sie reichen von einer vom Kirchenvater Augustinus – er lebte im vierten Jahrhundert – besorgten Zusammenstellung der Evangelien aus dem sechsten Jahrhundert über ein kurz darauf verfasstes Bilderwerk, das sowohl die heidnischen Götter feierte als auch Miniaturen der damals bekannten Sternbilder enthielt, bis zum sogenannten „Spinola-Stundenbuch“ aus dem 15. Jahrhundert.

Die zwölf Kapitel erweisen sich auf jeder Seite als spannende Synthese von Kunstgeschichte, Reiseerzählung und Detektivroman. LeserInnen folgen dem Autor auf seinen Expeditionen von Oxford bis Los Angeles, durch Bibliotheken von Kopenhagen bis St. Petersburg, auf der Spur wechselnder Besitzer und politischer Verhältnisse, von Verkaufs- aber auch Raubhandlungen.

Vor allem aber fesseln hervorragenden Bildreproduktionen des Bandes und erlauben dem Betrachter, sich einer Welt anzunähern, die heute kaum noch verständlich sein dürfte. Dass Schrift nicht nur ein Kommunikationsmittel ist, sondern auch eine „symbolische Form“ (Ernst Cassirer) war, wird etwa beim Betrachten einer Seite aus dem Stundenbuch der Königin Johanna von Navarra aus dem 14. Jahrhundert klar, in dem – wie damals üblich – wesentliche Sätze mit großen, farbig herausgehobenen Buchstaben beginnen. Doch zeigt dieses Buch zugleich, dass es mehr als nur ein Text war, nämlich ein existenzielles Projekt, ließ sich doch – auch das war in Zeiten großer gesellschaftlicher Ungleichheit, in der das Volk zu arm war, um zu lesen oder Bücher zu besitzen, üblich – die Eigentümerin selbst auf Seiten des Buches abbilden und in die dort erzählte Geschichte versetzen: Unter einer Abbildung der Heiligen Drei Könige, es geht um die Weihnachtsgeschichte, ist am unteren Seitenrand die Besitzerin des Buches in anbetender Haltung vor dem Kind in der Wiege zu sehen.

Es war der Philosoph ­Jacques Derrida, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nachgewiesen hat, welchen Wandel das gesprochene Wort und seine Bedeutung durchlaufen, wenn sie schriftlich fixiert werden. Ähnliches gilt für Geschichten, wenn sie denn (auch) in Bildern ausgedrückt werden. Kommt beides zusammen – die Fixierung des Wortes in der Schrift und die Erleuchtung von Narrativen durch das Bild, beides in Form eines dreidimensionalen Gegen-Standes, den man in den Händen halten kann – entsteht ein Buch.

Christopher de Hamels Bericht über zwölf Begegnungen mit mittelalterlichen Handschriften fesseln, beglücken und stimmen zugleich melancholisch: angesichts eines Kulturguts, das unwiederbringlich zum Verschwinden verurteilt zu sein scheint.