Meistgeklickt auf taz.de 2018: Rechtsextreme, Obdachloser, Suizid

Auf taz.de waren 2018 einige Texte besonders erfolgreich. Wir haben eine Top 7 zusammengestellt und mit den Autor*innen gesprochen.

Ein buntes Feuerwerk über den Dächern von Florenz ist zu sehen

Einige Texte auf taz.de erhielten 2018 besonders viel Aufmerksamkeit Foto: dpa

Hannibals Schattenarmee, Christina Schmidt, Martin Kaul und Daniel Schulz, 16.11.2018

Worum geht es? Die deutschlandweit beachtete Recherche der drei taz-Autor*innen zeichnet ein düsteres Bild: Sie fanden Hinweise darauf, dass es innerhalb der Bundeswehr ein rechtes Untergrundnetzwerk gibt. Martin Kaul erzählt hier von der Recherche.

Der Anstoß:

Es begann unspektakulär: mit Neugier. Als im Herbst 2017 Sondereinheiten unter Weisung der Bundesanwaltschaft in Mecklenburg-Vorpommern auch die Privathäuser anderer Polizisten stürmten, fuhr taz-Reporterin Christina Schmidt sofort dorthin. Erst redeten alle nur von sogenannten „Preppern“ – aber nach und nach ergab sich ein deutlich vielschichtigeres Bild.

Wir recherchierten im Team – über die Rolle von Reservistenkameradschaften und die Heimatschutzkompanien der Bundeswehr, über eine Festplatte mit rechtsextremem Liedgut, die bis heute für Streit sorgt und schließlich über die bundesweite Dimension eines Untergrundnetzwerkes und die Rolle von Hannibal. Nach und nach kamen immer mehr Puzzleteile zusammen. Nach über einem Jahr sehen wir ein immer größeres Bild.

Die Resonanz:

Der Text wurde sehr breit wahrgenommen und wir haben hunderte Zuschriften und Reaktionen darauf erhalten, fast ausschließlich positive. Die meisten unserer LeserInnen haben sich bei uns für die Recherche bedankt. Aber es haben sich auch Menschen gemeldet, die uns noch mehr zu erzählen haben, teils Erschreckendes. Ihnen fühlen wir uns im journalistischen Sinne verpflichtet.

Das Nachspiel:

Wir sehen, dass sowohl der Verteidigungsausschuss im Deutschen Bundestag als auch der Innenausschuss und das Parlamentarische Kontrollgremium das Thema sehr ernstnehmen und bereits Vertreter des MAD, des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Bundesanwaltschaft eingeladen haben. Wir sehen auch, dass viele andere Medien inzwischen in die eigenen Recherchen eingestiegen sind. Das begrüßen wir selbstverständlich, weil es noch genug zu beleuchten gibt.

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Demonstranten der rechten Szene zünden Pyrotechnik und schwenken Deutschlandfahnen

Spätestens seit den Aufmärschen in Chemnitz redete ganz Deutschland wieder über Rechtsextreme im Osten Foto: dpa

Wir waren wie Brüder, Daniel Schulz, 1.10.2018

Worum geht es? Die rechten Aufmärsche und Angriffe in Chemnitz und Köthen haben dieses Jahr erneut die Debatte angefacht, wieso Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR so verbreitet ist. Unser Autor Daniel Schulz hat mit einem persönlichen Text über seine eigene Jugend in Brandenburg einen Nerv getroffen – er erhielt für seinen Artikel den Reporterpreis.

Der Anstoß:

Ich wollte etwas schreiben über die Nähe zwischen den Rechten, den Rechtsextremen und „uns“, dem Rest, den anderen, den Stinos, wie wir damals sagten, also den Stinknormalen. Nicht um den Rechtsextremismus zu normalisieren, ihn weniger gefährlich erscheinen zu lassen. Sondern um deutlicher zu machen, wie gefährlich er wirklich ist.

Rechtsextremismus ist nichts, was sich per Mülltrennung aussortieren und entsorgen lässt. Und wenn wir weißen Deutschen über diese Nähe, auch die persönliche Nähe des Rechtsextremen zu „uns“ nichts dazulernen, begreifen wir nicht, wo der NSU und sein Unterstützerumfeld herkommen, wie „so etwas wie in Chemnitz“ passieren kann und auch vom Aufstieg der AfD verstehen wir dann bestenfalls die Hälfte. Ein erster Schritt hin zu diesem Verstehen ist für mich das Erzählen von dieser Nähe.

Die Resonanz:

Die Resonanz war überwältigend freundlich und das bedeutet mir sehr viel. Weil es auch zeigt: Es gibt den Raum für solche Geschichten. Aber gerade denke ich mehr über die nach, die es nicht waren. Eine Frau hat auf Facebook das Zitat von Manja Präkels kommentiert, die im Text sinngemäß sagt, die Nazis hätten dann doch manchmal für alte Schulreunde, für Punks und Langhaarige, Zärtlichkeit übrig gehabt und sie beschützt, aber diese Zärtlichkeit sei eben für Nicht-Weiße und jene, die als Fremde begriffen werden, nicht da. Diese Frau hat einfach nur geschrieben: Und wir People of Color wissen das.

Das Nachspiel:

Ich habe den Reporterpreis bekommen, mich haben Literaturagenturen angeschrieben und Menschen, die etwas fürs Radio oder Filme machen möchten. Es ist vielleicht ganz gut, dass ich in Kyiv bin, wo ich mir Sorgen darum machen muss, ob ich warmes Wasser habe und dass mir die Füße nicht abfrieren. Zum Abheben ist es hier einfach zu halt.

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Friedrich Merz steht an einem Pult mit Mikrophon

Besonders herzlich wirkte Friedrich Merz nie – schon vor Jahren bekam ein Obdachloser das zu spüren Foto: ap

„Macht wieder auf dicke Hose“, Frederik Schindler, 23.11.2018

Worum geht es? Die Straßenzeitung „Straßenfeger“ berichtete im Jahr 2010 über einen Obdachlosen, der im Jahr 2004 das Notebook des damaligen stellvertretenden Unionsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz gefunden hatte und als Dank Merz' eigenes Buch „Nur wer sich ändert, wird bestehen“ erhielt. Als sich Merz im November 2018 für den CDU-Bundesvorsitz bewarb, fand unser Autor Frederik Schindler den damals obdachlosen Enrico J. und sprach mit ihm.

Der Anstoß:

Mitten im Dreikampf zwischen Friedrich Merz, Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn um den CDU-Bundesvorsitz ploppte die Straßenfeger-Geschichte von 2010 in den Sozialen Medien auf. Ich habe mich sofort gefragt, was der damalige Straßenzeitungsverkäufer wohl heute über Merz denkt und wie es ihm heute geht – und dachte mir schon, dass das viele interessieren würde.

Zunächst recherchierte ich, wer den anonym veröffentlichten Straßenfeger-Artikel schrieb und bekam von der Autorin einen Hinweis über die ebenfalls im Artikel vorkommende Sozialarbeiterin Heike, die das Buch damals an Enrico übergab. Nach zahlreichen Telefonaten mit verschiedenen Hilfsorganisationen konnte sie mir die Geschichte schließlich bestätigen. Über Facebook fand ich dann die Lebensgefährtin von Enrico J., die mir schließlich den Kontakt vermittelte.

Die Resonanz:

Das Interview bekam eine sehr große Aufmerksamkeit. Kurz nach der Veröffentlichung erschienen auf Spiegel Online sowie auf den Internetangeboten von Welt, FAZ, Stern und vielen anderen eigene Artikel über das Gespräch. Das ZDF, der WDR und ProSieben meldeten sich und wollten Enrico J. gerne interviewen – doch der wollte nicht ins Fernsehen. Seine Begründung: „Ich möchte mein Leben so weiterführen, wie ich es jetzt führe und habe keinen Bock, dass am Ende noch der Herr Merz persönlich vor der Tür steht.“

Das Nachspiel:

Viele Politiker nahmen das Interview zum Anlass, Friedrich Merz zu kritisieren. So forderte beispielsweise der SPD-Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag, dass Merz nachträglich Finderlohn zahlen müsse. Meine Nachfrage bei J. ergab übrigens, dass er das Geld nicht annehmen würde: „Ich würde den Brief zurückschicken. Ich bin nicht mehr sauer, aber da würde es ja denn eh nur um ihn und nicht um mich gehen“, sagte er mir.

Auf zahlreiche Medienanfragen zu der Geschichte wollte sich Merz selbst nicht äußern. In einem Spiegel-Porträt über Merz heißt es: „So wird aus seinem (tatsächlich unsensiblen) Umgang mit einem Obdachlosen, der im Jahr 2004 Merz‘ Notebook gefunden hatte, eine halbe Staatsaffäre. Auf diese scharfe Begleitung, geprägt durch Twitter-Nutzer und Onlinemedien, ist Merz erkennbar nicht vorbereitet. Er verstummt zum Teil, womöglich will er die Debatten aussitzen, wie es zu Helmut Kohls Zeiten noch möglich war. In Zeiten der Echtzeithysterie aber ist dies schwer.“

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Anleitung zum Ungehorsam, Malene Gürgen, 25.07.2018

Worum geht es? Beispiele für zivilen Ungehorsam gegen Abschiebungen, Racial Profiling oder rassistische Polizeigewalt.

Der Anstoß:

Anlass war die Aktion der 21-jährigen schwedischen Aktivistin Elin Ersson. Ersson verhinderte am 23. Juli die Abschiebung eines Afghanen aus Göteborg, weil sie sich als Passagierin des Flugzeugs, mit dem der Mann abgeschoben werden sollte, so lange weigerte ihren Sitzplatz einzunehmen, bis der Mann das Flugzeug verlassen konnte. Sie streamte ihre Aktion live bei Facebook und löste so eine Debatte über zivilen Ungehorsam aus.

Die Resonanz:

Der Bild-Chef Julian Reichelt schlug auf Twitter vor, die taz könne ja als nächstes eine Anleitung schreiben, wie man Leute aus dem Knast holt, von denen man glaubt, dass sie dort zu Unrecht sitzen. Eine interessante Anregung.

Das Nachspiel:

Es gab gleich eine ganze Reihe von Beschwerden beim Presserat über den Text, weil dieser zu Widerstand gegen die Staatsgewalt aufrufe. Die Beschwerden wurden vom Presserat aber als unbegründet zurückgewiesen.

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DJ Avicii an einem Mischpult

2018 beging DJ Avicii mutmaßlich Suizid. Daraufhin übertrafen Medien sich in unmöglicher Berichterstattung Foto: dpa

Jetzt mit krassen Details!!!, Dinah Riese, 2.5.2018

Worum geht es? Als der DJ Avicii gestorben ist und von einem möglichen Suizid die Rede war, berichteten viele Medien wie immer bei solchen Themen: pietätlos und boulevardesk. Dass das gefährlich werden kann, ist vielen Redaktionen nicht bewusst. Unsere Autorin macht auf diese Gefahr aufmerksam.

Der Anstoß:

Naja, das Thema war aktuell, und die Berichterstattung dazu war gar nicht zu übersehen. Und sie war in großen Teilen extrem unsensibel und voyeuristisch, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass das beim Thema Suizid nicht nur geschmacklos ist, sondern auch gefährlich.

Die Resonanz:

Der Text ist extrem oft geklickt worden; ich glaube, es gibt ein breites Unbehagen darüber, wie manche Boulevard-Medien mit dem Tod und insbesondere dem Suizid von Menschen umgehen, auch bei Menschen, die sich mit dem Werther-Effekt oder überhaupt mit Suizid nicht intensiv beschäftigen – einfach, weil dieser Umgang menschlich so daneben ist.

Das Nachspiel:

Ich nehme auf jeden Fall seitdem noch viel sensibler wahr, wie Menschen über Suizid sprechen. Das müssen ja nicht mal solche Hammer wie im Fall Acivii sein – immer noch hört und liest man ganz oft das Wort „Selbstmord“, ohne dass die Leute sich klar machen, welche Worte sie da wählen.

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In einem Comic ohrfeigt eine Frau einen Mann, Blut spritzt aus seinem Gesicht

Als sie gehängt werden sollte, ohrfeigte Mala Zimetbaum ihre Wache (Szene aus einem Comic über Zimetbaum) Foto: Nick Hannes

Die Heldin von Auschwitz, Waltraud Schwab, 26.1.2018

Worum geht es? Mala Zimetbaum kannte kaum jemand – unsere Autorin wollte das ändern. Die Auschwitz-Gefangene war eine Heldin, sie führte ein beeindruckendes Leben. Vor 100 Jahren wurde sie geboren.

Der Anstoß:

Ich versuche immer, Wege zu finden, um auf das, was Frauen getan und erreicht haben, aufmerksam zu machen. In der Regel nämlich wurden (und werden) Leistungen von Frauen oft nicht gewürdigt, nicht erwähnt und die Frauen nach ihrem Tod auch vergessen. Also durchforste ich Archive und Terminkalender. Stehen Jubiläen oder runde Geburtstage an, ist das eine gute Gelegenheit, darüber zu schreiben, denn ganz reflexhaft benötigen Zeitungen einen Anlass, etwas zu bringen. Nicht die vergessene Leistung ist der Anlass, wohl aber ein Jubiläum. So ticken wir.

Die Resonanz:

In der Regel kommt davon wenig bei den AutorInnen an. Bei Zimetbaum war es anders: An einigen Orten soll es gar spontane Überlegungen gegeben haben, sie zu ehren – etwa durch die Benennung einer Straße nach ihr.

Das Nachspiel:

Die Resonanz motiviert mich, weiter über diesen Umweg auf die Leistungen von Frauen aufmerksam zu machen.

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Kristina Hänel

„Markus Krause“ zeigte auch die Gießener Ärztin Kristina Hänel an Foto: dpa

„Das ist halt so mein Hobby“, Gaby Mayr, 10.4.2018

Worum geht es? In diesem Jahr wurde in der Zivilgesellschaft wie auch im Bundestag heftig über den Paragraphen 219a im Strafgesetzbuch debattiert, das „Werbeverbot“ für Schwangerschaftsabbrüche. Wegen der Strafanzeigen einiger Abtreibungsgegner landeten Ärzt*innen wie Kristina Hänel vor Gericht. Mit einem dieser radikalen „Lebensschützer“ sprach unsere Autorin.

Der Anstoß:

Von Deutschlandfunk Kultur habe ich einen Auftrag für ein Feature zu Paragraf 219a bekommen. Dafür wollte ich wenigstens einen der beiden Anzeigeerstatter gegen die ÄrztInnen haben. Der eine redet nicht mehr mit den Medien, der andere hatte noch nie ein Interview gegeben. Ich konnte ihn überzeugen und habe Anonymität zugesichert. Daran halte ich mich weiterhin. Er nannte sich „Markus Krause“. Für die taz habe ich eine längere Fassung des Interviews aufgeschrieben.

Die Resonanz:

Entsetzen und Erstaunen, dass ein 27-Jähriger, der mit seiner Freundin bis zur Ehe enthaltsam leben will, ÄrztInnen derart unter Druck setzen und die Justiz für seine Zwecke „einspannen“ kann. Anfragen von KollegInnen, auch aus dem Ausland, die ein Interview mit „Markus Krause“ machen wollten. Ich habe die Anfragen an „MK“ weiter geleitet. Der lässt die Absagen von seinem Anwalt verschicken, verbunden mit einer Warnung, MKs Klarnamen zu benutzen, der mittlerweile vielerorts bekannt ist, oder seinen Mandanten sonstwie kenntlich zu machen. Ein weiteres Interview hat MK nicht gegeben.

Das Nachspiel:

Schwangerschaftsabbruch ist wieder ein Thema. Dazu haben die Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel und die folgende Berichterstattung zum Paragraf 219a beigetragen. Es wurde ins Blickfeld gerückt, dass Schwangerschaftsabbruch in Deutschland, anders als in vielen vergleichbaren Ländern, im Strafrecht geregelt ist und dadurch Frauen unter Druck gesetzt und ÄrztInnen kriminalisiert werden.

Ich selber habe mir durch meine Paragraf-219a-Berichterstattung den Unmut von Ex-BGH-Richter Thomas Fischer zugezogen samt Aufforderung, eine Unterlassungserklärung zu unterschreiben. Ich hatte die entsprechende Passage in seinem Strafrechtskommentar, auf die sich viele Gerichte bei ihren Urteilen beziehen, kritisch untersucht. Mein Anwalt hat Fischers Ansinnen zurückgewiesen. Ende offen.

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