So
viele
falsche
Worte

Wenn Menschen mit Beeinträchtigungen Kunst machen, wird es gerade für wohlmeinende Kritiker*innen schwierig: Wie thematisieren, was man eigentlich nicht thematisieren will?

Behinderung spielt keine Rolle: Schauspieler des Blaumeier-Ateliers beim Bremer Straßenkunstfestival „La Strada“ 2014 Foto: Ingo Wagner/dpa

Von Jan Paul Koopmann

Ob der da hinten auf seinen Füßen nun besser tanzt als sie hier vorn, die dafür Unterarmgehstützen braucht? Keine Ahnung, aber es ist auch erst mein übernächstes Problem. Dringender wäre nämlich noch zu klären, ob man nicht vielleicht doch – ausnahmsweise – „Krücke“ schreiben darf. Weil „Unterarmgehstütze“ ja nun wirklich jede*n raushaut aus dem Text.

Ort, Zeit und Ensemble sind ganz egal. Der Tanz ist hier nämlich gar nicht das Thema, sondern allein diese mal mehr und mal weniger verkrampften Texte über die Kunst. Es geht um Kritiken: eine schwere Textsorte, deren Bedeutung heute zwar immer lauter bestritten wird, die für viele Zeitungen (wie auch diese hier) aber dennoch als die zentrale Würdigung eines Kulturprodukts gilt. Eine kurze Ankündigung hierzu oder ein schnelles Interview darüber gehen immer – aber damit sich wirklich wer persönlich ins Publikum bequemt, muss die Inszenierung schon so richtig wichtig sein.

Geht es nun um Kunst mit inklusivem Anspruch, wird das ohnehin anspruchsvolle Regelwerk dieser Texte zum echten Problem. Sinnlich sollen Kritiken sein, eine scharfe These entwickeln, die konkrete Produktion im Kunstkosmos verorten und dabei – vor allem – ein so ehrliches wie fundiertes Werturteil fällen. Die Fallstricke zum Abhaken:

1. Sinnlichkeit ist affektgeladen, appelliert immer an den Instinkt und tut sich außerordentlich schwer mit einer problembewussten Sprache. Ohne den Verächter*innen politischer Korrektheit nach dem Maul reden zu wollen, muss man ihnen zugestehen: Es ist ausgesprochen schwer, in gerechter Sprache Emotionen zu transportieren. Für den politischen Diskurs ist das eine Wohltat, für die Theaterkritik eine Herausforderung.

2. Die Verortung ist schwierig, weil sie Kritiker*innen dazu verführt, die Inszenierungen gegen sich selbst auszuspielen. Die gängigen Kategorien gerade der Hochkultur sind dermaßen normiert und auf einen willkürlich gesetzten Perfektionismus zugerichtet, dass abweichende körperliche Merkmale sich sperren. Die fünf formalisierten Ballettpositionen lassen sich so wenig im Rollstuhl umsetzen, wie sich über den Versuch schreiben ließe, ohne dabei eben vor allem über diesen Rollstuhl zu schreiben.

3. Auch das Bewerten ist hiervon betroffen, weil in jedem aufgezeigten Fehler die Arroganz des Privilegierten steckt und in jedem Lob ein Quäntchen Gift. Sehr leicht liest man darin, eine Arbeit sei trotz der Beeinträchtigung gut geraten. Und das ordnet den Menschen seiner Diagnose unter.

Fast vergessen: 4. Selbst das mit der These ist schwierig, wie hier dann doch an einem konkreten Beispiel zu sehen ist. Im Bremer Blaumeier-Atelier werden mitunter beeindruckende Bilder gemalt – von Menschen mit und ohne Diagnose. Vor knapp einem Jahr war hier eine Gruppenausstellung zum Thema „Spiel“ zu sehen. Großartig war die. Nicht „gemessen an“ oder gar „trotz“ irgendwas, sondern weil sie so leichtfertig wie präzise einen Zustand eingefangen und reflektiert hat, den wir nicht nur alle kennen (weil wir als Kinder gespielt haben), sondern die sich dazu noch als enorm relevant für aktuelle gesellschaftliche Fragen erwiesen hat: „Gamification der Wirklichkeit“ und so weiter. Als Kritiker, gerade für die taz, hätte ich das sagen und es dabei belassen können.

Inklusion kann nicht heißen, die gemeinsam ausstellenden Künstler*innen in zwei Gruppen zu sortieren

Ich habe es nicht getan, weil die Schau ihrem Publikum die eigenen Vorurteile wie ein Spiegelkabinett um die Ohren gehauen hat. Und das, gerade weil man hier nicht dazu schreibt, ob die jeweiligen Künstler*innen irgendwelche Beeinträchtigungen haben oder nicht. Reizworte: ein Spielplatz, das kranke Kind, ach, das arme Ding! Nein, doch nicht, es ist ja doch ein fröhliches Bild. Oder nicht? Wie alt ist der Künstler? Ist er gesund? Warum sollte das überhaupt eine Rolle spielen? Und wieder von vorn. Eine schonungslose Konfrontation mit den eigenen Ansichten und Ansprüchen war das. Und ich habe irgendwann entschieden, dass mir die immer massiver drängende Frage nach den Künstler*innen mindestens so wichtig für den Text ist wie die Arbeiten selbst.

Inklusion kann nicht heißen, die gemeinsam ausstellenden Künstler*innen in zwei Gruppen zu sortieren, und wer gerade das loben will, spricht dann doch wieder über Krankheiten. Ob es nun richtig war oder nicht: Es gab gute Gründe dafür, mehr zu sagen als die Künstler*innen und Kurator*innen. Kunst muss sich erlauben, so zu tun, als wäre das Fernziel längst erreicht. Wir werden schließlich nie beim gerechten Miteinander ankommen, wenn nicht mal jemand damit anfängt.

Journalismus kann das nicht, obwohl er besonders gut darin ist, mit Worten Wirklichkeiten zu konstruieren. Meistens stürmt die Kritik mit autoritärer Sprache und angedeutetem Herrschaftswissen in die Gegenrichtung und definiert sich eben was zurecht. Oder noch schlimmer: Der Kritiker macht sich zum Sprachrohr des sogenannten gesunden Menschenverstands und erklärt es noch als Heldentat, weit verbreitete Dummheiten nachzuplappern: „Behindert wird man ja wohl noch sagen dürfen.“

Die schlechte Nachricht: Ich habe kein Patentrezept. Selbst verbotene Wörter wie eben die „Krücke“ oder gar der „Krüppel“ können unter Umständen die richtigen sein. Wer es ernst meint mit der Inklusion und mit der Kritik, dem bleibt nur, sich erstens gründlich zu verkrampfen und sich das zweitens nicht anmerken zu lassen. Für jeden einzelnen Text gilt, wenn man es schwülstig mag: die Rahmenbedingungen der Kunst klar zu benennen, ohne sie den Blick auf das Schöne und Wahre im Inneren verstellen zu lassen. Und das bleibt bis auf Weiteres so anstrengend wie alternativlos.