Terror-Anklage gegen Krebs-Aufklärer

Staatsanwalt in Istanbul fordert 12 Jahre Haft für einen Forscher, der Daten über eine erhöhte Krebsgefahr durch Umweltgifte in zwei Regionen der Türkei öffentlich machte

Ein Grund für die erhöhte Krebsrate: Felder, die aus dem verschmutzten türkischen Fluss Ergene bewässert werden, sind stark mit Giften belastet Foto: Tolga Sezgin/NarPhotos/laif

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

„Ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Bevölkerung vor der großen Gefahr einer Krebserkrankung zu warnen“, sagte der Ernährungswissenschaftler Bülent Şık vor wenigen Tagen der Onlinezeitung Gazete Karinca. „Ich bin doch den Menschen verpflichtet und nicht dem Gesundheitsministerium.“ Das sieht die Staatsanwaltschaft in Istanbul anders. Sie hat ein Verfahren gegen Şık eingeleitet und will ihn wegen Verstoßes gegen das Anti-Terror-Gesetz für zwölf Jahre ins Gefängnis bringen.

Dabei hat Bülent Şık nur seine Arbeit gemacht. Er ist ein renommierter Ernährungswissenschaftler und war bis 2016 an der Universität in Antalya beschäftigt. Aufgeschreckt über Meldungen von häufigen Krebsfällen in Thrakien und Kocaeli, zwei Provinzen in der Nordwesttürkei, gab das Gesundheitsministerium in Ankara 2012 bei der Universität eine umfassende Feldstudie in Auftrag, um festzustellen, ob es wirklich eine über dem statistischen Durchschnitt relevant höhere Rate tödlicher Krebserkrankungen in den beiden Provinzen gibt, und, wenn ja, was die Ursachen dafür sind.

Die schickte daraufhin ein ganzes Team von Wissenschaftlern los, die drei Jahre die Situation in Thrakien und Kocaeli prüften. Einer von ihnen war Bülent Şık. Das Ergebnis ist erschreckend. Während in der Türkei durchschnittlich jeder zehnte Todesfall auf eine Krebserkrankung zurückgeht, stirbt in den beiden untersuchten Provinzen jeder Dritte an Krebs.

Dafür macht die Studie eine stark erhöhte Belastung von Boden, Wasser und Luft mit Pestiziden, Schwermetallen und polyaromatischen Hydrokarbonverbindungen verantwortlich. Blei, Arsen und Chrom im Trinkwasser, Pestizide im Boden und in verschiedenen Lebensmitteln. Thrakien ist eines der am intensivsten von industrieller Landwirtschaft genutzten Gebiete der Türkei, und Kocaeli ist ein Zentrum der Schwerindustrie, Stahlwerke und Ölraffinerien inklusive.

Die Studie wurde fertiggestellt und 2015 an das Gesundheitsministerium übergeben. Doch die Universität hatte in einem Vertrag mit dem Ministerium Vertraulichkeit zugesichert: Demnach durften die Daten ohne Zustimmung aus Ankara nicht veröffentlicht werden. Dann passierte erst einmal gar nichts. Der Putschversuch im Juli 2016, der anschließende Ausnahmezustand, die Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und die vielen Verhaftungen von Journalisten sorgten dafür, dass die Krebsraten in der Nordwesttürkei kein Thema mehr waren.

Auch Bülent Şık wurde von seiner Universität entlassen, weil er noch vor dem Putschversuch, wie Hunderte andere Akademiker, einen Aufruf unterschrieben hatte, in dem die Regierung aufgefordert wurde, zu politischen Verhandlungen mit der kurdischen PKK zurückzukehren.

„Ich bin doch den Menschen verpflichtet, nicht dem Ministerium“

Bülent Şık, Wissenschaftler

Doch Şık hatte die Untersuchung über die Krebsgefahren nicht vergessen. Er ärgerte sich, dass das Gesundheitsministerium die Untersuchung einfach in der Schublade hatte verschwinden lassen, ohne dass Konsequenzen gezogen worden wären. Als Freiberufler publizierte er über Ernährungsfragen und schrieb dann im Frühjahr 2018 in der Tageszeitung Cumhuriyet eine vierteilige Serie über die Untersuchung in Thrakien und Kocaeli.

Daraufhin wurde er beschuldigt, gegen die dem Gesundheitsministerium zugesagte Vertraulichkeit verstoßen zu haben, und sollte wegen der Zeitungsveröffentlichung vor einer für Pressefragen zuständigen Kammer angeklagt werden. Doch nach einigen Monaten entschied sich die Oberstaatsanwaltschaft in Istanbul anders. Die Anklage vor der Presse­kammer wurde zurückgezogen und stattdessen eine Anklage wegen Verstoßes gegen das Anti-Terror-Gesetz vorbereitet.

Am Freitag gab sein Anwalt Tora Pekin bekannt, dass die Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Terrorverfahrens zwölf Jahre Haft gegen Bülent Şık beantragt hat. Ein Grund dafür dürfte in Bülents Familie liegen. Er ist der ältere Bruder des bekannten und in der Regierung verhassten Investigativjournalisten Ahmet Şık, der bereits mehrmals im Gefängnis saß, im Moment aber als gewählter Abgeordneter der kurdisch-linken HDP Immunität genießt.