Die Wahrheit: Endlich Videobeweis für alle

Nachdem die Bildschirmüberprüfung im Fußball endlich für Klarheit gesorgt hat, kommt jetzt der Einsatz von Fernsehbildern auch im Privatleben.

Zwei Männer sitzen vor Bildschirmen und schauen sich ein Fußballspiel an

Bald in jedem Schlafzimmer verfügbar: Bei strittigen Entscheidungen greift der Videoassistent ein Foto: dpa

„Warum sollen nur Fußballprofis vom Videobeweis profitieren? Jeder Bürger hat Anrecht auf mehr Transparenz bei strittigen Alltagsszenen!“ Karsten Tretter rutscht unruhig auf seinem Bürostuhl herum. Der 32-Jährige steht ständig unter Strom. Vor Kurzem erst hat er im Kölner Stadtteil Deutz das Start-up VAFA (Video-Assistenz Für Alle) gegründet.

„Wir wollen genauso arbeiten, wie die Profis von der DFL in der Bundesliga!“, sagt der gelernte Stahlbauer, der sich über ein YouTube-Tutorial als Video-Schiedsrichter fortgebildet hat. Mit dem Unterschied, dass er und seine Mitarbeiter direkt vor Ort das Geschehen analysieren. VAFA unterstütze ganz normale Menschen in ihrem Alltag mit sofortigen Videoanalysen. „Aber immer nur dann, wenn es zu unklaren Situationen kommt“, betont Tretter.

Für die entscheidende Testphase verbringt der gewiefte Firmengründer werbewirksam vor dem Rückrundenstart der Fußball-Bundesliga einige Tage bei der Kölner Familie Rogowski. In der Fünfzimmer-Wohnung hat er 98 Kameras installiert, auch in den sensiblen Bereichen wie Bad oder Schlafzimmer. „Wo sich Menschen unbeobachtet fühlen, da passieren die meisten Regelverstöße!“, weiß Tretter aus dem Fernsehen.

„Wir waren etwas überrascht über die Anzahl“, gibt Anja Rogowski zu. Die attraktive Zahnärztin mit dem hippen Kurzhaarschnitt war zu Beginn sehr skeptisch. Doch ihr Mann Philipp setzte sich durch: „Ständig streiten wir darüber, wer für was verantwortlich ist! Jetzt entscheidet hier der Videobeweis!“, freut sich der kugelige Mittvierziger und streichelt seinen Bauchansatz.

Schaltzentrale im Kinderzimmer

Seine Schaltzentrale richtet Karsten Tretter im Zimmer von Sohn Julian, dreizehn Jahre alt, ein. Statt dem heißgeliebten „Minecraft“, zeigt Julians PC jetzt die Videostreams von Tretters Kameras. Julian musste unter lautem Protest vorübergehend in den Flur ziehen.

Der erste Einsatz des Videobeweises findet bereits in der folgenden Nacht statt. 2:43 Uhr: Anja Rogowski rüttelt ihren Mann wach. „Du schnarchst wie ein Ochse! Ich kann überhaupt nicht schlafen!“ Philipp streitet alles ab. Er fordert unverzüglich den Videobeweis. Noch schlaftrunken, aber pflichtbewusst steht Karsten Tretter zwei Minuten später mit seinem Tablet im Schlafzimmer. Er entert das Bett, kuschelt sich auf der Besucherritze zwischen die beiden Streithähne und startet das Video.

Hat er nachts wirklich wie ein Ochse geschnarcht? Unverzüglich wird der Videobeweis angefordert

Die Auswertung überrascht alle Beteiligten. Geschnarcht hat der dicke Kater Hugo, der es sich am Bettende bequem gemacht hatte. Die erste Bewährungsprobe für Video-Schiedsrichter Tretter. Nach halbstündiger Bedenkpause, weil Tretter kurzzeitig eingeschlafen ist, steht seine Entscheidung fest: Die komplette Nacht muss wiederholt werden. „Katzen sind im Regelwerk nicht vorgesehen. Ich kann hier nur Menschen berücksichtigen!“ Tretter schickt Anja und Philipp ins Badezimmer zum erneuten Zähneputzen und Bettfertigmachen.

Auch am nächsten Tag ist der Videobeweis gefragt. Es gibt großen Streit zwischen Vater und Sohn. Philipp verdächtigt den pubertierenden Dreizehnjährigen, eine Flasche Apfelkorn aus der Vorratskammer entwendet zu haben, um sie mit zu einer Geburtstagsparty zu nehmen. „In deinem Alter schon saufen, bist du völlig durchgeknallt?!“ Julian streitet den Vorwurf vehement ab.

Kameras in der Vorratskammer

Diesmal kommt Video-Schiedsrichter Tretter erst auf mehrmalige Nachfrage aus seinem Zimmer. Mürrisch und leicht desorientiert startet er am Küchentisch die Videoaufzeichnung aus der Vorratskammer. Tatsächlich kommt ein Kopf mit Julians Lieblingskäppi ins Bild. Tretter stoppt das Video. Die Entscheidung scheint klar, doch Julian beschwert sich augenblicklich. „Das bin ich doch gar nicht! Ich bin viel kleiner!“

Mutter Anja Rogowski ist auch misstrauisch und fordert, das ganze Video zu sehen. Tretter grummelt und drückt Play. Die Person im Bild greift zum Schnapsregal und zeigt dabei kurz ihr Profil. Obwohl nun eindeutig zu sehen ist, dass es Karsten Tretter selbst ist, der sich nur Julians Käppi aufgesetzt hat, weigert sich der Video-Schiedsrichter, Konsequenzen zu ziehen. Aber seine Entscheidung steht felsenfest: Julian hat den Schnaps geklaut! „Wenn beim Fußball jemand mit der Trikotnummer sieben ein Foul begeht und da steht hinten ‚Ronaldo‘ drauf, dann müssen wir doch nicht darüber diskutieren, ob das vielleicht Messi war!“

Nach einer Woche beendet Jungunternehmer Karsten Tretter die Testphase bei den Rogowskis und zeigt sich hochzufrieden. Als Video-Schiedsrichter habe er unzählige strittige Situationen in der Familie aufklären können, die früher im Streit geendet wären. Anders als in der Bundesliga gebe es nur positive Resonanz aller Beteiligten. Sein Start-up VAFA werde jetzt offiziell seine Dienste anbieten.

Dank seiner Arbeit habe sich Anja Rogowski endlich von ihrem Mann Philipp getrennt. Und für Sohn Julian sei nach der Apfelkorn-Affäre die sechsmonatige Suchttherapie in einer geschlossenen Einrichtung sicher nur das Beste. Für Philipp Rogowski aber hätte die Woche des Videobeweises trotz aller Verfehlungen und kompromittierender Aufnahmen nicht besser laufen können. Der zuletzt arg eingerostete Zahnarztgatte will seinem Leben nun endlich eine positive Wendung geben. Nach der Scheidung wird er bei Tretters Unternehmen als Video-Schiedsrichter anheuern. Sein Spezialgebiet: Mobbing in der Arbeitswelt.

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